Das Dickicht
- Tropen
- Erschienen: Januar 2014
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- New York: Mullholland, 2013, Titel: 'The Thicket', Originalsprache
- Stuttgart: Tropen, 2014, Seiten: 331, Übersetzt: Hannes Riffel
- München: Heyne, 2016, Seiten: 350, Übersetzt: Hannes Riffel
Im Wald, da sind die Räuber
Kurz nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es in Amerika eine große Pockenepidemie. Dabei sterben die Eltern des 16-jährigen Jack Parker, und sein Großvater will ihn und seine 14-jährige Schwester Lula zu ihrer Tante nach Kansas bringen. Auf der Fähre über den Sabine River kommt es zu einem tödlichen Streit mit drei Ganoven, der Großvater wird erschossen. Die Fähre kentert, und von einem Paar, das ihn aus dem Fluss zieht, erfährt Jack, dass Lula offenbar mit den drei Galgenvögeln fortgeritten ist. Der Junge will den Mord und die Entführung einem Sheriff melden, doch der wurde gerade bei einem Banküberfall getötet. Offenbar waren die Räuber auch die Typen, die nun seine Schwester in ihrer Gewalt haben. Es handelt sich um Cut Throat Bill, Nigger Pete und Fatty Worth. Jack trifft zufällig auf Eustace Cox, einen farbigen Kopfgeldjäger mit einem Eber als Haustier. Der Junge bietet dem ausgebufften Fahnder das Grundstück seiner Eltern an, damit dieser ihm hilft, seine Schwester zu finden und zu befreien. Komplettiert wird die Suchmannschaft durch den Liliputaner Shorty, und dann auch noch die entlaufene Hure Jimmy Sue. Der Weg führt sie schließlich in eine von Verbrechern durchseuchte Gegend, die für jedermann gefährlich ist - das Dickicht.
Lansdale schreibt auf gleichbleibend hohem Niveau
Es ist und bleibt bemerkenswert, dass es Autoren gibt, die ihre Geschichten auf einem konstant hohen Niveau erzählen. Ob das bei Joe R. Lansdale schon immer so war, vermag ich nicht zu beurteilen, aber Das Dickicht macht im Grunde da weiter, wo Dunkle Gewässer aufgehört hat. Zwar sind es völlig andere Protagonisten, deren Geschichte hier erzählt wird, aber der Grundtenor ist der gleiche.
Es geht wieder um die Struktur-arme Gegend am texanischen Sabine River, um die Zeit der Jahrhundertwende. Das Gesetz ist schwach, Verbrechen sind an der Tagesordnung. Und sie werden von Lansdale ungeschminkt geschildert, wobei er dabei stets auf einem hohen sprachlichen Niveau bleibt.
Jack Parker agiert als Ich-Erzähler der mehr als turbulenten Geschichte, wodurch es authentische und überaus jugendlich klingende Dialoge gibt. Die einzelnen Fakten sollte man dabei allerdings nicht auf die Goldwaage legen, schließlich basiert alles auf den Erinnerungen von Jack. Trotz seines jugendlichen Alters muss der sympathische und im Grunde seines Herzens unbeschwerte Junge einiges erleben und durchmachen.
Immerhin sind seine Eltern und sein Großvater auf ziemlich tragische Art und Weise ums Leben gekommen. Kaum verwunderlich also, dass er mit allen Mitteln versuchen will, seine überlebende Schwester Lula zu finden und zu befreien. Dafür ist Jack sogar bereit, sein Erbe zu opfern. Der junge Mann schildert das Geschehen dennoch mit ironischen und teilweise flapsigen Worten. Als Leser schließt man Jack und seine skurrile Truppe schnell ins Herz und fiebert mit ihren – zuweilen ziemlich blutigen - Abenteuern mit.
Eine illustre Riege von Protagonisten
Die Protagonisten des Romans sind eine ziemlich illustre Riege. Neben dem liebenswürdigen Jack, der während des Abenteuers einen Reifeprozess durchmacht, ist da die Prostituierte Jimmy Sue, die ihr Herz auf dem rechten Fleck trägt, und mit der Jack eine Beziehung eingeht. Es gehört zum Reiz der Geschichte, dass Lansdale diese zarten Bande eher beiläufig schildert, und es am Ende auch offen bleibt, wie dauerhaft diese amouröse Verflechtung sein wird.
Und dann ist da Shorty, ein mit allen Wassern gewaschener Liliputaner. Er beobachtet mit einem Teleskop die Sterne, hält Jack ausufernde philosophische Vorträge – und kann hart zuschlagen und auch töten, wenn es nötig wird. In der Truppe, die sich um Jack sammelt, spielt Shorty eine enorm wichtige Rolle. Er ist für den menschlichen Zusammenhalt unverzichtbar, und er beeinflusst die Entscheidungen seines Partners, was für den Fortgang der Suche zuweilen ausschlaggebend ist.
Eustace ist ein hoch aufgeschossener Afro-Amerikaner, der als Kopfgeldjäger schon so einiges erlebt hat. Seine Markenzeichen ist "Keiler", ein halbzahmer Eber, der ihn ständig begleitet. Eustace ist deutlich unstetiger in seinem Wesen als Shorty, und scheinbar auch nicht so gebildet. Aber seinen Job als Kopfgeldjäger macht er gut und ist dabei auch überaus konsequent.
Die drei Gangster sind dann noch einmal ein ganz eigenes Kaliber, und daneben gibt es noch weitere Rand-Figuren, die ebenfalls eindrücklich und anschaulich gezeichnet wurden. Das Personaltableau des Romans ist insgesamt überaus gelungen und fügt sich in den hervorragenden Gesamteindruck beim Lesen perfekt ein.
Reifeprozess wird perfekt in einen Kriminalroman eingebettet
Wie bereits beschrieben macht Jack während der Geschichte eine enorme persönliche Entwicklung durch. Das Dickicht kann also als eine Mischung aus Kriminal- und Entwicklungsroman eingestuft werden. Laut Wikipedia bezeichnet der Begriff Entwicklungsroman einen Romantypus, "in dem die geistig-seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird. Der Entwicklungsroman schildert den Reifeprozess des Protagonisten, der seine Erlebnisse und Erfahrungen reflektierend verarbeitet und seiner Persönlichkeit einverleibt." Das trifft es ziemlich gut, wobei Joe R. Lansdale diesen Prozess für meine Begriffe perfekt in einen Kriminalroman eingebettet hat.
Der Autor hat hier einige unterschiedliche Aspekte zusammengeschnürt, und das macht er ganz hervorragend. Es geht um das beschleunigte Erwachsenwerden des jungen Jack, um die Gesetzlosigkeit im Texas der damaligen Zeit, um die Konfrontation des romantisierten "wilden Westens" mit der Industrialisierung – dargestellt am Beispiel der beginnenden Ölförderung, und um menschliche Beziehungen im Allgemeinen. Knackige Dialoge, teilweise finsterer Humor, und nicht zuletzt das geschilderte Ensemble an merkwürdigen und bemerkenswerten Personen machen diesen Roman zu einem echten Lesevergnügen. Wer die Zeit dazu hat, sollte das Buch ruhig zweimal lesen, man wird immer noch neue Nuancen finden, die den Roman so überaus unterhaltsam machen.
Joe R. Lansdale, Tropen
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