Das blinde Huhn
- Albert Müller
- Erschienen: Januar 1962
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- London: T. Nelson & Sons, 1939, Titel: 'You Remember the Case', Originalsprache
- Rüschlikon - Stuttgart - Wien: Albert Müller, 1962, Seiten: 191, Übersetzt: Ursula v. Wiese
Tennisspielender Amateur-Detektiv jagt Mehrfachmörder
Hugh Clevely, Sohn aus gutem aber verarmtem Adelshaus, schlägt sich als Tennisspieler durchs Leben und versucht sich nebenbei als Autor bisher stets abgelehnter Theaterstücke. Aktuell folgt Clevely einer Einladung des Gutsherrn Sir George Hurstbourne, der auf Schloss Mardingley in der Grafschaft Glouchestershire ein Tennisturnier organisiert hat.
Clevely verfährt sich und landet bei Sir Georges Nachbarn Charles Delahaye. Dessen Haus war trotz des dichten Nebels leicht zu finden, da es in hellen Flammen steht. Wagemutig stürzt sich Clevely in die Flammen, kann den Hausherrn jedoch nur tot bergen: Delahaye wurde mit einem Dolch erstochen.
Hilfe von Schloß Mardingley ist nicht zu erwarten, da den Hausherrn just dasselbe Schicksal traf. Major Wilkin von der Ortspolizei ist heillos überfordert. Gern würde er Jim Stoke, Sir Georges nichtsnutzigen Neffen, den er herzlich hasst, des Verbrechens überführen. Die Ermittlungen nehmen erst Formen an, als Scotland Yard sie in Gestalt Inspektor Uptons übernimmt.
Wie üblich gibt es zahlreiche Verdächtige. Anna Vernon, Sir Georges Sekretärin, verbirgt eine juristisch fragwürdige Vergangenheit. Nachbar Henry Starning ist als despotischer Wüterich berüchtigt. Außerdem bedrängt er die hübsche Sarah Gibson, auf die auch Clevely ein Auge geworfen hat. Die Aufregung erreicht den Höhepunkt, als entdeckt wird, dass die kostbaren Juwelen der Clare Merritt verschwunden sind; Sir George hatte sie für seine Schwägerin aufbewahrt.
Der Tennisspieler fühlt sich zum Privatdetektiv berufen. Er stellt sich die Frage, ob es wirklich Charles Delahaye war, den er aus den Flammen gezogen hat. Clevely hegt die Theorie, dass hier nur ein Strohmann sein übles Ende fand, während der echte Mörder weiterhin auf freiem Fuß ist. Falls dies zutrifft, ist er womöglich noch präsent sowie willens, den Juwelenraub sowie zwei Morde durch weitere Kapitalverbrechen zu ergänzen ...
Dummerweise richtig geraten
Damit liegt der Möchtegern-Detektiv völlig richtig. Überhaupt kommt irgendwann der Moment, in dem Clevely seine Spürnase heftig verflucht. Zwar gelingt es ihm, den Strolch aus der Reserve zu locken, der jedoch nicht nur zu rücksichtsloser Gewalt neigt, sondern erst recht in Zorn gerät, als er feststellen muss, dass sein Kontrahent vor allem gut geraten hat.
Doch diese eher unbekümmerte Art der Deduktion war durchaus Programm. Das blinde Huhn, der erste Band um den Lebemann Hugh Clevely, erschien 1939. Kurioserweise hieß der tennisspielende Privatermittler im Original „Tod Claymore". Unter diesem Pseudonym schrieb Autor Clevely die letztlich neunteilige Serie. Da die „Claymore"-Romane hierzulande unter dem Verfassernamen „Hugh Clevely" erschienen, wurde der Ich-erzählende Detektiv übernommen aber einfach umgetauft: eine seltsame Lösung.
Dass es sich hier um einen hoffentlich erfolgreichen Serienstart handelt, bindet der Autor übrigens witzig direkt in die Handlung ein. Auf der letzten Seite erklärt die Hauptfigur, wieso sie die gerade erlebte Geschichte aufgeschrieben hat:
„Und damit ist das Buch zu Ende. Wenn es sich gut verkauft und ich einiges Geld damit verdiene, werde ich ein zweites Buch verfassen, sobald ich wieder etwas Aufregendes erlebe."
Mechanismen der Verbrecherjagd
Das blinde Huhn ist ein Rätselkrimi der alten englischen Schule. Er erschien gerade noch vor dem Zweiten Weltkrieg und damit in der großen Zeit des Genres. Zum Kreis der Klassiker gehört Hugh Clevely freilich nicht. Obwohl sein Roman überaus unterhaltsam ist, wird vor allem in der zweiten Hälfte deutlich, dass etwas fehlt. Es ist die harte Kandare des erfahrenen „Whodunit"-Reiters, der seiner Geschichte zwar hin und wieder die Zügel locker lässt, sie aber stets fest in der Hand hält und ihr im Finale die Sporen gibt.
Clevely setzt dagegen (manchmal zu) stark auf den Effekt und den Zufall. Die Ausgangssituation verspricht viel: Zwei Morde werden quasi simultan in einer vom Nebel eingehüllten und abgelegenen englischen Grafschaft begangen. Für den Nostalgiker wimmeln auch sonst die geliebten Klischees. Natürlich bleibt das Wetter schlecht und hält die übersichtliche Schar der Verdächtigen, unter denen sich garantiert der Täter befindet, primär unter dem Dach von Schloss Mardingley fest. Dieser Personenkreis setzt sich aus den üblichen Exzentrikern plus jener hübschen jungen Dame zusammen, ohne die kein Rätsel-Krimi auskommt.
Schließlich muss sich der Held auch als Ritter erweisen, der besagte Dame rettet. Das betrifft ihr Leben, schließt aber auch ihren Ruf ein. Der ist in dieser vergangenen Ära womöglich wichtiger als das Leben. Schon der Verdacht, sie habe für eine spätere Ehe im ohnehin verworfenen Frankreich die intime Zweisamkeit mit einem Mann geprobt, treibt Anna Vernon schier in den Wahnsinn. Sarah Gibson traut sich nicht, den aufdringlichen Freier Starning mit deutlichen Worten ihre Abneigung zu verdeutlichen. Also gibt sie vor, mit Clevely verlobt zu sein, was den vermeintlichen Nebenbuhler zur Vorsicht mahnt: Ins Heiratsvisier genommene Frauen sind "besetzt" und dürfen nicht mehr bebalzt werden!
Die üblichen (= kuriosen) Verdächtigen
Clevely - gemeint ist der reale Verfasser - hat sich große Mühe gegeben, die Handlung durch fest umrissene, sehr individuelle Figurenzeichnungen zu beleben. Zeitweise meint man eine milde Variante der zeitgenössischen „Screwball"-Komödie zu lesen: Clevely macht Tempo und spitzt die Dialoge gern zu. Freilich setzt er seine Charaktere wie Schachfiguren ein. Manchmal stellt er sie auf ein freies Feld und wartet, was geschieht.
Auf diese Weise geht dem Geschehen viel Struktur verloren. Diverse groß eingeführte Verwicklungsstränge enden sang- und klanglos im Nichts. Dort verschwindet irgendwann auch Major Wilkin. Im Spiel bleibt dagegen Clare Merritt, die Clevely seinen Lesern beim besten Willen nicht als Verdächtige verkaufen kann.
Der Plot wird auf eine Weise aufgelöst, die den Nostalgie-Faktor kräftig beansprucht. Heute wirkt der "aufregende" Finalkampf zwischen Held und Schurke (unter Anwesenheit und Beteiligung der begehrten Jungfrau) weniger spannend als amüsant. Der Humor gleicht generell viel aus. Deshalb verzeiht man dem Verfasser die obskure Handlungslogik, die den Bösewicht antreibt. Hier erhebt ein einziges Mal und ungeschickt die zeitgenössische Realität ihr Haupt: Auch in England hatten die Nazis 1939 viele Anhänger, was einem Patrioten wie Clevely, der in beiden Weltkriegen diente, Sorgen bereiten musste.
Mit dem Kopf durch die selbst aufgestellte Wand
Überraschend gut ist dem Verfasser die Hauptfigur gelungen. Hugh Clevely - nun geht es um den Tennisspieler - ist jung, ungebunden und durch seinen "Beruf" viel unterwegs. So konnte ihn sein geistiger Vater in Abenteuer an unterschiedlichsten Orten verwickeln. Außerdem taugte Clevely als Identifikationsfigur.
Klug ließ der Autor seiner Hauptfigur einen gewissen Freiraum. So lässt er den Helden und die kapriziöse Sarah im Finale nicht zusammenkommen, sondern setzt die Romanze als Lockmittel für zukünftige Romanbände ein:
„Es hängt also von diesem Buch ab, und an den Lesern ist es zu entscheiden, ob Sarah und ich uns kriegen sollen." (S. 191)
Der eifrige aber ungeschickte Privatdetektiv, der einerseits den Täter stellt, wo die Polizei versagt, während er sich dadurch andererseits in Lebensgefahr bringt, ist bekannt und tauglich, die Spannung zu schüren. Bei allzu intensiver Musterung des Plots fragt sich der Leser dennoch, wieso gerade Amateur Clevely Erfolg hat, während der als tüchtiger Ermittlungsspezialist geschilderte Upton sich in gedankenschweres Schweigen hüllt. Womöglich blendet ihn der Verfasser genau deshalb zeitweise aus dem Geschehen aus, das ungeachtet dessen einen beachtlichen Unterhaltungswert bewahren konnte.
Hugh Clevely, Albert Müller
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