Fliehe weit und schnell
- Aufbau
- Erschienen: Januar 2003
- 48
- Paris: Viviane Hamy, 2001, Titel: 'Pars vite et reviens tard', Originalsprache
- Berlin: Aufbau, 2003, Seiten: 399, Übersetzt: Tobias Scheffel
Vargas braucht keinen Vergleich mit großen Namen zu scheuen
Es dauert eine ganze Weile, bis Fred Vargas zur Sache kommt. Zunächst einmal erzählt sie über den ehemaligen Fischer Joss Le Guern. Nachdem er mit einem maroden Kahn Schiffbruch erlitt, bei dem mehrere Seeleute ums Leben kamen, musste er wegen Körperverletzung für neun Monate ins Gefängnis, weil er seine berechtigte Wut am Reeder ausgelassen hatte. Danach schlug er sich mit verschiedenen Jobs durchs Leben, bis ihm bei einer seiner Sauftouren sein Ururgroßvater erschien, der Nachrichtenausrufer gewesen war. Nach einem längeren fiktiven Dialog mit diesem wurde Joss klar, dass sich auch in der heutigen Zeit mit diesem Beruf durchaus noch Geld verdienen lässt. So stellt er auf einem Platz in Paris einen Kasten auf, in den Nachrichten aller Art zusammen mit fünf Franc eingeworfen werden können. Dreimal täglich verliest Joss dann die Nachrichten. Da werden Katzen zum Verkauf angeboten, Liebesbotschaften übermittelt, Tischlerarbeiten angepriesen, über den Fleischer geschimpft oder was auch immer den Leuten am Herzen liegt. Das Publikum wird gut unterhalten und für Joss springt ein ordentlicher Verdienst dabei heraus.
Seit einiger Zeit hat Joss jedoch einige "spezielle" Nachrichten zu verlesen. Merkwürdige Botschaften, teilweise in altertümlicher Sprache oder mit Latein durchsetzt, die keiner so recht versteht. Nur Joss' Nachbar Decambrais, den Joss schon in Verdacht hatte, diese Nachrichten selbst zu verbreiten, zeigt sich interessiert daran. Dessen Meinung nach versucht jemand, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Pest wieder in Frankreich Einzug halten wird.
Wiedersehen mit alten Bekannten
Danach lässt die Autorin zwei alte Bekannte miteinander philosophieren. Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg und dessen Mitarbeiter Danglard, die wir bereits aus "Es geht noch eine Zug von der Gare du Nord" kennen. Adamsberg wird von einer Frau aufgesucht, die eine ungewöhnliche Beobachtung gemacht hat: fast alle Türen ihres Hauses sind mit einer seitenverkehrten "4" gekennzeichnet worden. Sie macht sich Sorgen, dass dies ein Verrückter getan haben könnte, der vielleicht zurückkommen wird. Adamsberg misst dem keine große Bedeutung bei und versucht die Frau zu beruhigen. Erst, als nach ein paar Tagen in einem anderen Stadtteil in weiteren Häusern die Türen derart gekennzeichnet werden, wird er hellhörig. Und nun kommen weitere alte Bekannte ins Spiel: die drei Evangelisten, die unter anderem bereits in "Der untröstliche Witwer von Montparnasse" ihren Auftritt hatten, ihres Zeichens Historiker. Von Marc erfährt Adamsberg, dass es sich bei dem Zeichen um ein Abwehrzeichen gegen die Pest handelt. Im Mittelalter malten die Leute dieses Zeichen auf ihre Türen, um von der Krankheit verschont zu bleiben.
Ein Drittel des Buches ist bereits vorüber, als der Krimi endlich an Fahrt gewinnt. Ein Toter wird gefunden in einem Haus, dessen Türen die beschriebene Kennzeichnung aufwiesen. Alle Türen außer der des Opfers. Und der Tote weist schwarze Flecke auf. Die Untersuchung ergibt zwar, dass der Mann erwürgt wurde und die Flecken mit Holzkohle angebracht wurden, doch glaubt die Bevölkerung, was sie glauben will und fürchtet sich vor einer bevorstehenden Pestepidemie.
Von allzu viel Realismus sind die Krimis von Fred Vargas ja gemeinhin nicht geprägt, dafür besitzt die Autorin sehr viel Fantasie und versucht, den gesponnenen Gedanken logisch fortzuführen, was ihr meist auch gut gelingt. Der Plot ist wie immer bis ins kleinste genau konstruiert. Und Adamsberg kennen wir bereits als einen Polizeibeamten, der seine Fälle nicht gerade mit allzu viel Logik löst, sondern völlig unkonventionell und eher durch Intuition. In eine neue Abteilung versetzt hat er jedoch dieses Mal vor allem damit zu tun, sich die Namen seiner Mitarbeiter einzuprägen, was sich so langsam zum "Running Gag" der Story entwickelt. Obwohl er selber private Probleme hat, versucht er die Ruhe und die Übersicht zu behalten, was ihm nicht immer gelingt.
"Die ganze Stadt weiß Bescheid, Kommissar, die Leute haben Schiß, immer mehr Türen tragen eine Vier. Wir wissen nicht mehr, wo uns der Kopf steht."
"Versuchen Sie nicht mehr, herauszufindet, wo Ihnen der Kopf steht. Lassen Sie sich treiben."
"Ach so, gut, Kommissar."
Wie immer leben die Romane von Fred Vargas von den Milieuschilderungen, einem außergewöhnlichen Plot und vor allem von ihren skurrilen Figuren, die sie ausgezeichnet darstellt, und deren verquere Dialoge man gebannt verfolgt. Schräger Humor wechselt mit ernsten Szenen und philosophischen Betrachtungen ab. Auch die historischen Informationen über die Pest waren für mich größtenteils unbekannt. Mit relativ einfachen Mitteln baut die Autorin in der zweiten Hälfte ihres Romans eine kontinuierliche Spannung auf. Dafür sorgt auch schon die Idee, die Menschen mit einer ihrer Urängste zu konfrontieren, nämlich dem Ausbruch einer tödlichen Seuche. Die Auflösung aber ist schließlich viel banaler, als es uns die Autorin zuvor glauben machen wollte.
Vargas schreibt ungewöhnlich, besonders und lässt sich nicht in eine Schublade einordnen
Die Romane der französischen Archäologinin sind sicher nicht leicht zu übersetzen. Daß dies jedoch hervorragend gelungen ist, lässt sich an den deutlichen Formulierungen gut erkennen. Fred Vargas beweist hier wie gewohnt, dass ihre schriftstellerischen Qualitäten keine Vergleiche mit großen Namen zu scheuen brauchen.
Die Werke von Fred Vargas zählen eher zu den besonderen, zu den ungewöhnlichen Krimis und lassen sich nicht in irgendeine Sparte einordnen. Mit "Fliehe weit und schnell" hat sie wieder einen erstklassigen Roman vorgelegt, der gewisse Ähnlichkeiten mit ihrem Buch "Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord" aufweist, diesen aber wegen des komplexeren Aufbaus noch übertrifft.
Fred Vargas, Aufbau
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