Die Toten im Schnee
- Piper
- Erschienen: Januar 2013
- 1
- Rom: TimeCrime, 2012, Titel: 'Venti corpi nella neve', Seiten: 333, Originalsprache
- München; Zürich: Piper, 2013, Seiten: 364, Übersetzt: Sigrun Zühlke
Von Visionen geplagt
"Don´t judge a book by its cover!" ist eine geläufige Redewendung aus dem Englischen, die sich nicht nur auf Bücher bezieht, sondern oft im übertragenen Sinn auf alles Mögliche angewendet wird. Sie besagt, man solle nicht nach dem äußeren Schein vorschnell urteilen. Andersherum kann ein gefälliges Äußeres Interesse wecken, was die Grundlage aller Werbestrategien ist. So konnte der Rezensent sich der Bannerwerbung für den ersten Kriminalroman des Italieners Giuliano Pasini, die auf der Krimi-Couch geraume Zeit geschaltet war, nicht entziehen. Das Buchcover mit einer mediterran anmutenden Gasse in warmen Rostrot, überzuckert von Pulverschnee, machte ihn neugierig, obwohl der rückseitige Klappentext nur Althergebrachtes versprach. Die Toten im Schnee ist der Auftakt zu einer Reihe um einen Vice Commissario im kleinsten Kommissariat Italiens. Nach Case Rosse, einem verschlafenen Tausend-Seelen-Kaff im nördlichen Appennin hat Roberto Serra sich zurückgezogen in der Hoffnung, die Dämonen, die ihn seit dem gewaltsamen Tod seiner Eltern verfolgen, loszuwerden. Vier Jahre der Ruhe und Abgeschiedenheit liegen hinter ihm, als am Neujahrsmorgen 1995 drei Tote im Schnee gefunden werden. Serras Plagegeister kehren zurück.
In der Nacht zum 1. Januar wird die Familie Zanarini – Vater, Mutter und die neunjährige Tochter – durch Genickschüsse hingerichtet und auf dem Monte della Liberta, unweit des Dorfes Case Rosse, abgelegt. Die Familie wohnte in Bologna und hatte in der Nähe ein Ferienhaus. "Keine von uns" - konstatiert die verschworene Dorfgemeinschaft fast mit Erleichterung. "Da wird der Täter auch wohl von außerhalb kommen". - mutmaßen sie weiter. Doch damit liegen sie falsch, denn bald schon gerät einer der ihren unter dringenden Tatverdacht. Einigen in der Polizeihierarchie kommt eine schnelle Aufklärung gerade recht, ist sie doch förderlich für die eigene Karriere. Roberto Serra sieht indes viele Ungereimtheiten bezüglich des Tatverlaufs, auch kann er kein Motiv beim Täter erkennen. Er ermittelt inoffiziell weiter und stößt auf ein lange zurückliegendes Ereignis.
Vor genau fünfzig Jahren, am 1. Januar 1945, lagen schon einmal 20 Tote im Schnee (Originaltitel: Venti corpi nella neve). Was zu diesem Zeitpunkt keiner wusste, war, dass der 2. Weltkrieg bald zu Ende gehen würde. Die Alliierten drangen von Süden gegen die deutschen Besatzungstruppen vor. Zudem war Norditalien eine Hochburg der Partisanen, die sich viele erfolgreiche Scharmützel mit der Wehrmacht und den SS-Einheiten lieferten. Aber es gab in der Bevölkerung einige, die mit dem ehemaligen Waffenbruder aus Deutschland kollaborierten. So manch ein Dorf war tief gespalten – Kooperation mit dem Feind oder Widerstand – eine Entscheidung, die für beide Seiten tödlich enden konnte, deren Auswirkungen Jahrzehnte überdauerten. So ist der Tod der Familie am Neujahrstag 1995 eng verknüpft mit den Ereignissen zu Kriegsende – soviel darf verraten werden.
Tote im Schnee – damals wie heute – eine echte Herausforderung für den jungen Vice Commissario. Aber nicht nur der Kriminalist in ihm ist gefordert, sondern er ganz persönlich, denn Serra sieht sich mit einer Situation konfrontiert, der er unbedingt ausweichen wollte.
Obwohl er erst siebenunddreißig ist, lebt er das zurückgezogene Leben eines alten Mannes. Vor vier Jahren noch hat er in Rom an vorderster Front der Verbrechensbekämpfung gestanden. Die enorme psychische Belastung, die der Umgang mit Vergewaltigern, Mördern und deren lebenden oder toten Opfern zwangsläufig mit sich bringt, überforderte den jungen Mann. Seit dem brutalen Mord an seinen Eltern leidet Serra an sporadisch auftretenden Anfällen, epileptischen nicht unähnlich, die sich unter Stress häufen. Während dieser Attacken wird er von Visionen überfallen, sieht durch die Augen Anderer Vergangenes, meist Erschreckendes, das mit den Fällen zu tun hat, in die er emotional involviert ist. Die Visionen sind nicht prophetischer Natur, aber Serra konnte im Nachhinein für manch eine Ermittlung Nutzen aus ihnen ziehen. Nichtsdestotrotz belasten ihn diese Anfälle. Für einen zufälligen Beobachter sieht es aus, als führe Serra einen Veitstanz auf. Diverse Fachärzte hat er schon konsultiert, aber auch die sind mehr oder minder ratlos. Als einziger Ausweg schien ihm der Rückzug in die Einsamkeit.
Übersinnliche Wahrnehmungen in einem ansonsten realistischen Krimiplot werden nicht von allen Lesern goutiert. Roberto Serras "Visionen" bewegen sich aber in einem vertretbaren Rahmen. Sie werden nicht als Allheilmittel für schwer lösbare Fälle missbraucht. Im Vordergrund steht immer die Belastung, die sie für den Helden darstellen. Der beweist denn auch genügend kriminalistischen Spürsinn, um die Mauer des Schweigens und das Gespinst der Lügen zu durchdringen. Er löst den Fall mit Bravour, hat aber seinen inneren Frieden eingebüßt. Man darf gespannt sein, wie es mit ihm persönlich weitergeht. Autor Giuliano Pasini schreibt schon an Band 3.
Die Toten im Schnee ist nun kein Kriminalroman, den man unbedingt gelesen haben muss, aber einer, der für einige Stunden spannend unterhält. Man merkt, dass man den Auftakt einer Krimi-Reihe vorliegen hat. Der Hauptprotagonist und weitere wichtige Mitglieder des Stammpersonals (Serras Lebensgefährtin Alice, sein Mentor Questore Bernini) werden ausführlich vorgestellt. Der aktuelle Fall steht dennoch im Vordergrund und seine Einbettung in die italienische Vergangenheit ist gut gelungen.
Mit Die Toten im Schnee hat Pasini ein solides Fundament für seine neue Serie geschaffen.
Giuliano Pasini, Piper
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