Breaking News
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2014
- 41
- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, Seiten: 950, Originalsprache
Geschichtsunterricht mit Thriller-Attitüde
Tom Hagen ist Sensationsreporter und auf dem absteigenden Ast. Ihn noch als investigativen Journalisten oder Kriegsberichterstatter zu bezeichnen, wäre nicht treffend, obwohl er beides einmal gewesen ist. Vor einigen Jahren war er der Topstar eines auflagenstarken deutschen Nachrichtenmagazins, bis er eine von ihm mitinitiierte Lösegeldforderung bei einer Geiselnahme durch die Taliban in den afghanischen Wüstensand setzte, die einigen das Leben kostete. Gegenwärtig arbeitet er für ein zweit- oder drittklassiges Online-Nachrichtenportal in den Krisengebieten der Welt, immer auf der Suche nach dem großen Knaller, der ihn wieder an die Spitze seiner Zunft katapultieren könnte. So versucht er unter Lebensgefahr gegen Ende des Libyen-Konflikts an Muammar Gaddafi heranzukommen, dessen Tage (Stunden) zu diesem Zeitpunkt schon gezählt sind. Als ihm das misslingt, setzt Tom Hagen sich über Damaskus nach Israel ab. Dort werden ihm durch Vermittlung eines ehemaligen Kollegen zwei CDs mit angeblich brisantem Inhalt zugespielt. Da er die erlangten Daten nicht richtig zu deuten weiß, spinnt er sich eine Verschwörungsgeschichte zusammen, die seinen (alten) Arbeitgeber zur Bereitstellung weiterer Finanzmittel animieren soll. Was Hagen nicht ahnt, ist, dass sein Telefonat mit der Redaktionsleitung abgehört wird, aber er wird es später schmerzlich erfahren.
Frank Schätzings Breaking News ist ein spannender Thriller mit reichlich Actionszenen und wilden Verfolgungsjagden auf geschätzten 300 Seiten. Ein Reporter wird unbeabsichtigt Spielball und Mitspieler einer Verschwörung innerhalb der israelischen Geheimdienste. Der Thriller allein erfüllt durchaus die Erwartungen, die Freunde des Subgenres an selbiges stellen. Nun hatte aber der Autor die Absicht, die Idee, die Ambition, den Thriller-Plot in einen großen geschichtlichen Kontext einzubetten, und davon handeln die "restlichen" ca. 600 Seiten.
Beginnend in den 1930er Jahren erzählt Frank Schätzing die Geschichte der Brüder Jehuda und Benjamin Kahn, zweier fiktiver Figuren, die Spielkameraden eines gewissen Arik Scheinermann waren, der später einmal als Ariel Scharon die Geschicke Israels maßgeblich bestimmen sollte. Die Eltern der drei waren gerade in die "nationale Heimstätte für das jüdische Volk" (Balfour-Deklaration) eingewandert und versuchten, sich mit den dortigen Verhältnissen zu arrangieren. Das Leben im Palästina zur damaligen Zeit war geprägt durch den Konflikt zwischen den ansässigen und in zunehmend größerer Zahl einwandernden Juden und ihrer arabischen Nachbarn. "Konflikt" mag ein zu harmloses Wort sein für das, was sich dort durch die Jahrzehnte abspielte und bis heute noch abspielt. Trotz aller Verhandlungen, Abkommen, Initiativen Dritter und wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen scheint kein friedvolles Nebeneinander von Israelis und Palästinensern möglich zu sein. Gründe dafür kennt man aus den Medien zuhauf, da kann auch Frank Schätzings Abriss der Geschichte des Nahen Ostens nichts Neues/Erhellendes bieten.
Stellvertretend für die Menschen dieser Region entwickeln sich die Protagonisten des Romans entlang der historisch belegten Daten und Fakten. Ein potenzieller Leser sollte schon an Geschichte im Allgemeinen und an der Israels im Speziellen interessiert sein. Vieles von dem, worüber Schätzing schreibt, hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Anderes ist weniger bekannt oder entspringt der Fantasie des Autors. Für den Leser ist es nicht immer leicht, gerade bei Nebenschauplätzen die Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion zu ziehen, zumal Schätzing sich in einer Art Omnipräsenz anmaßt, belehrend und kommentierend eingreifen zu dürfen, dabei seine retrospektive Position oftmals ignorierend. Man muss sich bei der Lektüre bewusst sein, dass der Autor nicht die historische Wirklichkeit abbildet, sondern seine ganz persönliche Interpretation von Ereignissen und Personen.
Die Geschichte eines Staates und seiner Anrainer über einen Zeitraum von 80 Jahren in einem Roman zu beleuchten, kann nur schlaglichtartig geschehen. Frank Schätzing ist zwar bemüht, Zusammenhänge aufzuzeigen und einen roten Faden (der Aufstieg des Ariel Scharon) zu entwickeln, doch leider verliert er sich allzu oft in Belanglosigkeiten, die die Geduld des Lesers doch arg strapazieren.Mehrmals war der Rezensent versucht, die geschichtlichen Kapitel zu überfliegen. Geschichte (Historie) ist nicht spannend in einem unterhaltsamen Sinn. Sie kann Spannung erzeugen, Ängste wecken, wenn sie aktuell stattfindet. Dazu braucht man in diesen Tagen nur einen Blick Richtung Osten auf die Ukraine zu werfen. Dort wird das Wohl der Menschen im Machtpoker der Global Players geopfert. Parallelen zum Nahost-Konflikt sind überdeutlich. Geschichte wiederholt sich immer, wenn alleinseligmachende Ideologien oder Religionen aufeinanderprallen. So gesehen bietet Schätzings Breaking News anschaulichen Geschichtsunterricht, wenn man den subjektiven Blickwinkel des Autors nicht aus den Augen verliert.
Wem könnte man Breaking News als Lektüre empfehlen? Für einen Liebhaber der Spannungsliteratur ist das Mischungsverhältnis von Thriller und Geschichtsschreibung bzw. historischem Roman zu unausgewogen. Trotz einiger Action-Einlagen zuvor nimmt die Thrillerhandlung erst ab Seite 480 richtig Fahrt/Spannung auf. Das ist eine ziemlich lange Durststrecke. Zu lang nach Empfinden des Rezensenten. Da wird mancher Geduldsfaden schon vorher reißen.
Am ehesten empfiehlt sich der Roman für Leser, die an der Politik und Geschichte des letzten Jahrhunderts interessiert sind. Die Kenntnis von Eckdaten der leidvollen Geschichte Palästinas ist von Vorteil, um den Irrungen und Wirrungen der religiösen, ethnischen und politischen Auseinandersetzungen folgen zu können, wobei zudem die Lebensläufe der (fiktiven) Protagonisten als chronologisches Gerüst helfen werden.
Frank Schätzing ist ein überzeugender Erzähler, der seine Romane mit umfangreichen Recherchen akribisch vorbereitet und aus einem immensen Sprach- und Wissensschatz schöpfen kann. Ob gewollt oder ungewollt schleicht sich da des öfteren ein belehrender Unterton ein, den der sensible Leser als unangemessen/unangenehm auffassen kann. Ein ähnliches Unbehagen erzeugt eine stilistische Eigenheit Schätzings, die in diesem Roman über die Gebühr strapaziert wird. Das Fragmentieren von Sätzen oder das Weglassen von Satzteilen ist als Stilmittel beliebt geworden, wenn ein Autor z.B. Tempo, Hektik, Dynamik ausdrücken oder den sogenannten "Bewusstseinsstrom" deutlich machen will. Schätzing hat sich darauf kapriziert, bei vielen Handlungsabläufen die Personalpronomina wegzulassen, ohne dass es einen erkennbaren Sinn macht, sondern nur affektiert wirkt.
Unterm Strich ist Breaking News ein Zwitterding, weder Fisch noch Fleisch, das keinem Gourmet auf der Zunge zergehen wird. Die Bewertung des Rezensenten von 65° ist auch nur ein Kompromiss. Der Thriller-Anteil des Romans hat wirklich Klasse, wird aber vom Volumen des historischen Teils erdrückt.
Frank Schätzing, Kiepenheuer & Witsch
Deine Meinung zu »Breaking News«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!