Natürliche Mängel
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 2010
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- New York: Penguin Press, 2009, Titel: 'Inherent vice', Seiten: 368, Originalsprache
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2010, Seiten: 477, Übersetzt: Nikolaus Stingl
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2012, Seiten: 477
Thomas Pynchon: Von den Simpsons auf die Krimi-Couch
Das Paradies. L.A. 1970. Nixon, Vietnam und Charles Manson. "The '60s are gone, dope will never be as cheap, sex never as free, and the rock and roll never as great. Das ARPAnet beginnt seinen Siegeszug und der Sender NBC will "Raumschiff Enterprise" absetzen. Die schöne bunte drogenlustige Hippie-Welt dahin gemeuchelt. Blumenkinder werden zu menschliche Wracks, der Vietnam-Krieg und die Morde der Manson-Gang drücken die Stimmung.
Soweit zum Hintergrund zu Pynchons sehr verknäulter, aber gar nicht mal unspannender Kriminalhandlung. Pynchon light? Wer Gegen den Tag, Pynchons Schwergewicht mit seinen 1600 Seiten gelesen hat (und womöglich daran verzweifelt ist) findet hier vielleicht einen Zugang zu Pynchons Werk. Natürliche Mängel umfasst nur 478 Seiten und verwickelt kaum hundert Personen.
Der Roman um den ständig bekifften Detektiv Doc Sportello liest sich wie ein Underground-Comic. Um Sportello hat sich eine Chaostruppe versammelt und sie bekommen einiges zu tun. Einfach erklärt sich dabei noch die Aufschrift "LSD" an Docs Bürotür: "Lokalisierung, Sicherheitscheck, Detektei".
Sportello , er trinkt, ist ständig bekifft, wird von der Polizei misshandelt, ist im steten Kampf gegen die korrupte Bürokratie. Aber er bewahrt trotz allem seine Würde. Sportello, der einzige legitime Nachfolger von Sam Spade.
In der klassischen Eingangssequenz, die an den roman noir erinnert, erscheint seine Ex- Freundin Shasta, die sich Sorgen um ihren neuen Freund, den reichen Immobilien-Tycoon Mickey Wolfmann macht. Schon bald macht Sportello, nachdem er neben der Leiche von Wolfmanns Bodyguards aufwacht, nicht zum ersten Mal die Bekanntschaft von Detective Lieutenant Bigfoot Bjornsen:
Vielleicht erklärte der Zusammenprall mit einem gewöhnlichen Gegenstand auf dem Weg zu Boden die schmerzhafte Beule, die er auf seinem Kopf fand, als er schließlich aufwachte. Schneller jedenfalls, als das Personal von Medical Center »subdurales Hämatom« sagen konnte, checkte Doc, dass (&) er selbst auf dem Betonboden eines Raums lag, den er nicht wiedererkannte, was allerdings nicht für das Phänomen galt, das er nun, hoch über sich wie einen Unglück bringenden Planeten im Tageshoroskop, als das bösartig funkelnde Gesicht von Detective Lieutenant Bigfoot Bjornsen vom LAPD identifizierte.
Und Mickey Wolfmann, der infiziert vom Flower-Power-Geist sein Geld in eine Umsonst-Wohnanlage, die als futuristische Kulisse unfertig in der Wüste steht, gesteckt hat, ist samt seiner neuen Geliebten Shasta plötzlich verschwunden. Offenbar gibt es Kreise, die Wolfmanns plötzliche Neigung zur Wohltätigkeit nicht zu schätzen wissen. Schon bald gibt es die nächste Leiche. Der kokainsüchtige Arzt Rudy Blatnoyd wird mit Genickbruch neben einem Trampolin gefunden. Und es war kein Sportunfall. Zu alledem ist Sportello auf der Suche nach dem verschwundenen Saxophonisten Coy Harlingen, der sich angeblich den Goldenen Schuss gesetzt hat, tatsächlich aber als Agent der Organisation "Kalifornien, erwache!" tätig ist.
Und da wäre noch der unheilvolle "Goldene Fang". Ein Steuersparmodell für wohlstandsverwahrloste Zahnärzte oder doch ein mafiöses Heroinkartell, das die Leute an die Nadel bringt, um ihnen anschließend prima Therapieprogramme anzubieten?
Und die Stadt des ewigen Sommers bietet viel schlechtes Wetter: Nebel, Smog, Dauerregen und ein apokalyptisches Gewitter. Pynchon liefert uns sein eigenes fiktives Los Angeles. Das Mekka der Hippies und Surfer. Der Moloch mit toxischen Restaurants, abgehalfterten Spielcasinos, Entzugskliniken und gewaltigen Baugruben.
Pynchon liefert eine Enzyklopädie von rauscherzeugenden Substanzen, psychedelische Bananenschalen eingeschlossen. Über hundert in dem Roman genannte Songs geben versteckte Hinweise, mit denen der wachsame Leser versuchen kann, Pynchons Gedankengänge nachzuvollziehen. Pynchon verwehrt dem Leser Haupt- von Nebenfiguren sowie einschneidende Ereignisse von signifikanten Beiläufigkeiten zu unterscheiden.
So wie Pynchon die Geschichte erzählt, ist beste Unterhaltung garantiert. Für einen echten Pynchon ist das zu wenig. Schließlich ist er einer der wenigen amerikanischen Autoren mit Geschichts- und
damit einem politischen Bewusstsein. Er schrieb schon 1966 in der New York Times über den Aufstand der Schwarzen im Stadtteil Watts in Los Angeles. Später weigerte er sich Steuern für den Vietnamkrieg zu zahlen. Und als die Gegenkultur nach einem langen kalifornischen Sommer verschied, und Hippies vom FBI umgedreht und als Informanten bezahlt wurden, wird er mit Betrübnis die Ereignisse verfolgt haben.
Sportello schläft in einer fremden Wohnung ein, und als er aufwacht, zeigt ihm der Fernseher ein Gesicht,
das sich als das von Nixon erwies und sagte: ´Es gibt immer Leute, die jammern und sich beklagen, das wäre Faschismus. Aber, liebe Mitbürger, wenn es ein Faschismus für die Freiheit ist?
Der Roman wurde von Nikolaus Stingl mit bewundernswerter Hingabe übersetzt.
Thomas Pynchon, Rowohlt
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