Suche
- btb
- Erschienen: Januar 2012
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- Oslo: Forl. Press, 2008, Titel: 'Kullunge', Seiten: 251, Originalsprache
- München: btb, 2012, Seiten: 329, Übersetzt: Christel Hildebrandt
Tief im Eis und noch tiefer in der Seele
Longyearbyen ist die Hauptstadt von Spitzbergen. Die zu Norwegen gehörende Insel am Rand des Arktischen Ozeans birgt reiche Kohlevorkommen, weshalb hier trotz des rauen Klimas – der Nordpol liegt nur noch 1000 km entfernt – intensiv Bergbau betrieben wird.
Die "Store Norsk Spitsbergen Kulkompani" ist der größte und praktisch einzige Arbeitgeber vor Ort. Um Kumpel und Ingenieure in den hohen Norden zu locken, zahlt die Gesellschaft gute Löhne und lockt mit Sonderleistungen. Außerdem schaut man nicht so genau auf frühere Verfehlungen, weshalb Longyearbyen beliebt bei denen ist, die einen Neuanfang suchen. Zu ihnen gehört der Ingenieur Steinar Olsen, der jedoch weiterhin an der Flasche hängt, weshalb Gattin Tone droht, ihn mit der fünfjährigen Tochter Ella zu verlassen.
Deshalb ist Steinar hauptverdächtig, als Ella eines Tages vom Kindergarten nicht heimkehrt: Tone vermutet, dass der Noch-Gatte ihr einen warnenden Schrecken einjagen will. Sie informiert sie die Polizei, Knut Fjeld übernimmt den Fall. Er stößt auf rasch auf ein Geheimnis: Im Kindergarten "Kullungen" verschwinden ständig Kinder. Bisher sind sie jedoch stets wieder aufgetaucht. Offensichtlich haben sie ein Versteck gefunden, das sie den Erwachsenen nicht verraten wollen.
Fjeld findet es, aber Ella bleibt verschwunden. Knuts Chef fordert Unterstützung vom Festland an. Die Fahndung konzentriert sich auf einen unbekannten Mann, der offenbar den Kindergarten tagelang beobachtet hat. Der Verdacht richtet sich gegen Per Leikvik, der nach einem schweren Grubenunglück hirnverletzt ist. Auch er ist verschwunden, was die Besorgnis steigen lässt, ist Leikvik doch fasziniert von den alten, längst aufgegebenen Stollen der "Kompani", die er wie seine Westentasche kennt. Ist er womöglich mit Ella in der Tiefe verschwunden …?
Fragwürdiger Neubeginn mit unbewältigten Altlasten
Die Gier nach fremdem Eigentum ist ein klassisches Thema des Kriminalromans. Ein weiteres Standbein bildet die Unberechenbarkeit der menschlichen Seele, die bisher brave Mitbürger auf einen (oder mit einem) Schlag in Schwerverbrecher verwandelt, weil Eifersucht und Zorn tödlich enden. Dritter im unguten Bund ist der kranke Geist, der dort kriminell wirken kann, wo objektiv kein Motiv festgestellt werden kann.
Monica Kristensen setzt in ihrem zweiten Kriminalroman auf alle drei Elemente. Daraus entsteht keine stringente Handlung, sondern ein Ereignisseil aus drei Strängen, die hier fest und dort locker miteinander verschlungen sind oder sogar frei laufen. Darüber hinaus bricht Kristensen mit der Chronologie. Wechsel- und kapitelweise springt sie von der Gegenwart zurück in die jüngere Vergangenheit. Stück für Stück fügen sich diese Rückblenden zu einer Vorgeschichte, die wichtig für das Verständnis eines Geschehens ist, das über einen ´normalen´ Kriminalroman ein gutes Stück hinausgeht.
Kristensen, die viele Reisen sowohl in die Arktis als auch in die Antarktis unternommen hat, kennt die offenen und die unterschätzte Gefahren, die dem Menschen in einer lebensfeindlichen Welt wie Spitzbergen zu schaffen machen. Kälte und die Dunkelheit des viele Monate dauernden, lichtarmen Winters sind nicht nur unmittelbar bedrohlich, sondern wirken sich auch schleichend auf die Psyche aus. Im Spitzbergen des 21. Jahrhunderts kann man zwar relativ sicher leben. Dennoch ist dies primär ein Ort für gefestigt in sich ruhende Menschen. Gesetzestreue ist dagegen keine notwendige Voraussetzung. Ausgerechnet die beiden fantasiearmen Strolche Lars Ove Bekken und Kristian Elligsen fühlen sich pudelwohl auf Spitzbergen: Sie konzentrieren sich auf Schmuggel und Wilderei und darauf, der Arbeit aus dem Weg zu gehen.
Gefährlich kalt und trügerisch kühl
Ein Fehler ist es, auf den freien Neuanfang zu hoffen: Was ein früheres Leben scheitern ließ, wird mit auf die Polarinsel gebracht. Hier können die Probleme brüten und wachsen, bis sie brutal zum Ausbruch kommen. Die Tragödie von Longyearbyen und die damit einhergehenden Straftaten sind primär den unterschiedlichen Stadien dieses Niedergangs geschuldet, der zwischen schlechtem Gewissen und offenem Wahnsinn sämtliche Zwischenstadien abdeckt.
Der puristische Leser mag kritisieren, dass die gestörte Psyche allzu sehr die Handlung bestimmt, die deshalb nicht den üblichen Krimi-Routinen folgt. Sie stellt sich eher als Kette von Missverständnissen und Fehlentscheidungen dar, die sich ungewollt aber katastrophal zu verbinden beginnen. Allerdings schreibt gerade das Leben Geschichten, die ausgedacht kein Mensch glauben würde.
Was in der ´normalen´, zivilisierten Welt nicht zwangsläufig tödlich enden muss, gewinnt auf Spitzbergen eine gänzlich andere Dimension. Die Wildnis ist keineswegs gezähmt, sondern nur verdrängt. So muss Knut Fjeld zwischendurch die Fahndung abbrechen, weil zwei Eisbären auf Longyearbyens Innenstadt zusteuern. Die gewaltigen Raubtiere stehen hier nicht hinter Gitterstäben, sondern gehören zum Umweltalltag.
Der Blick in den Abgrund
Noch einmal potenziert sich der Gefahrenfaktor, wenn es unter die eisige Erde geht. Kristensen war selbst im Bergbau auf Spitzbergen tätig. Sie kennt die Verhältnisse unter Tage also, was die entsprechenden Passagen ungemein eindringlich wirken lässt. Der Berg wird zum lauernden Ungeheuer, das mit großer Vorsicht behandelt werden will. Verstöße werden durch Staubexplosionen und Einstürze geahndet; Kristensen erzählt von grausigen Toden, die viele Bergleute auf Spitzbergen sterben mussten. Moderne Abbautechniken können das Risiko nur verringern, nie aber abstellen.
Den Geist dieser stets präsenten Gefahr repräsentiert Per Leikvik, der einzige Überlebende einer dieser Katastrophen. Außerdem dient er Kristensen als Verdächtiger – eine Rolle, die Leikvik, dem Außenseiter, viel zu gut steht. Weiterhin tatverdächtig sind zwischenzeitlich die schon erwähnten Bekken und Ellingsen, die viel zu verlieren haben, sollte man sie erwischen. Doch Kristensen wählt natürlich keine der allzu einfachen Lösungen.
Die "Suche" endet mit einem Fund. Der Berg will sein Opfer freilich nicht hergeben, was Kristensen die Möglichkeit bietet, das Finale mit Elementen des Katastrophen-Romans zu verquicken. Schnell muss es gehen, während um die unter Tage Flüchtenden herum morsche Stollen krachen und riesige Felsbrocken purzeln. Auch über Tage weiß Kristensen die Wut der ungebändigten Natur eindrucksvoll zu schildern, wenn sie ein Schmuggelschiff in eine von Eisbergen wimmelnde Flutwelle geraten lässt.
Geschlagen und bestraft
Am Ende ist das Schlimmste nicht eingetreten. Nichtsdestotrotz ist ein Mensch tot, gleich mehrere Beziehungen sind zerbrochen. Spitzbergen hat keine Opfer gefordert, die Opfer haben sich quasi selbst dargeboten. Die Überlebenden kehren geschlagen aufs Festland zurück. Begleitet werden sie abermals von alten und neuen unbewältigten Problemen. Ein mehrere Jahre nach der Haupthandlung datierter Epilog schilderte eine zweite Gräueltat, die auf die Ereignisse in Longyearbyen zurückgeht.
Was die Auswirkungen auf Spitzbergen selbst angeht, werden wir deutsche Leser leider im Dunkeln gelassen. Dabei gehört "Suche" zu einer längst fortgesetzten Serie. Aus unerfindlichen Gründen folgt hierzulande auf den zweiten allerdings der vierte Teil. Immerhin erscheint überhaupt ein weiterer Band, was bekanntlich keine Selbstverständlichkeit (und manchmal keine Freude) ist.
Monica Kristensen, btb
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