Norderney-Flucht
- Emons
- Erschienen: Januar 2013
- 6
- Köln: Emons, 2013, Seiten: 239, Originalsprache
Apokalyptischer Insel-Unfug
Im Wust der Regio-Krimis braucht es hin und wieder ausgefallene Ideen, um wahrgenommen zu werden. Dachte sich wohl auch Autor Manfred Reuter bei seinem zweiten auf der ostfriesischen Insel Norderney angesiedelten Roman um Kommissar Gent Visser: Entvölkern wir das Eiland doch einfach komplett und lassen dann unter den wenigen Zugereisten ein, zwei Morde geschehen! Klingt ambitioniert, daraus einen vernünftigen Plot entstehen zu lassen? Mehr als das. Und Reuter scheitert vollends damit.
Frühsommer an der Nordseeküste: Die Fähre "Frisia IV" macht sich auf ihre letzte Fahrt des Tages von Norddeich nach Norderney. Unter anderem an Bord: ein buntes Grüppchen, das Hochzeit feiern will sowie die beiden Polizisten Visser und Voss. Kurz bevor sie die Passage durchs Watt hinter sich gebracht haben, geschehen eigenartige Dinge. Der Funkkontakt bricht ab, Handys haben keinen Empfang und Norderney präsentiert sich menschenleer. Fluchtartig müssen die wenigen Einwohner und die vielen Touristen die Insel verlassen haben. Visser, Voss & Co. machen gute Mine zum bösen Spiel, nisten sich ein, sind bald aber auch selbst komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Dann geschieht ein Mord. Und noch einer.
Die Situation, die Manfred Reuter auf Norderney schildert, ist natürlich eine aus dem Genre altbekannte, schon Agatha Christie spielte damit in Mord im Orientexpress: ein Verbrechen in einer überschaubaren Gruppe, zu der weder ein Fremder hinzustoßen noch sich ein Bekannter verdünnisieren kann. Großer Auftritt für Hercule Poirot bei Christie, hier in Norderney-Flucht leider nur zu arg bemüht. Ein gewiefter Ermittler ähnlicher Liga fehlt freilich.
Nicht, dass der eigentliche Mordfall weit hergeholt wäre. Der ist in der Tat logisch und passend auf der Insel angesiedelt. Insofern könnte man auch mit dem ganzen Roman leben. Allerdings nicht mit Reuters hanebüchenem Konstrukt drumherum, das so viele Fragen offen lässt, dass die eigentliche Kriminalgeschichte kläglich im Hintergrund vor sich hin mäandert. Wieso funktioniert keine Technik mehr? Wohin und womit sollen mal eben gut 30.000 Menschen eine Nordseeinsel verlassen haben? Wie kann eine Fähre im wenige Meter tiefen Watt komplett sinken? Darauf und auf viele weitere Fragen liefert der Autor absolut keine Antworten. Und das ist mehr als unbefriedigend.
Auch vom Stil her betrachtet kann Manfred Reuter nicht punkten. Adjektivgeschwängerte Sätze mit dermaßen vielen Übertreibungen, dass selbst Jogi Löws Spielanalysen ("Enormes Laufpensum!") rational wirken. Vom "Exodus" ist die Rede, von der "Apokalypse" gar. Aus den recht überschaubaren Fähren zwischen Festland und den vorgelagerten Inseln werden direkt "Stahlkolosse", die "majestätisch" in der Sonne glänzen. Nichts gegen die Frisia-Flotte, aber so umwerfend sind die Schiffe dann nun wirklich nicht. Zwischendurch quält sich der Leser zudem durch so detaillierte Ortsbeschreibungen Norderneys, dass er nach der Lektüre problemlos dort Taxifahrer werden könnte. Die gespenstische Stimmung einer Insel ohne Bewohner bleibt letztendlich zwischen den Buchdeckeln verborgen.
Schade an Norderney-Flucht ist nicht die Idee, das Agatha-Christie-Setting auf die Ostfriesischen Inseln zu übertragen. Daraus hätte durchaus etwas werden können. Nur dafür bedarf es keiner "Apokalypse", sondern schlicht eines kalten Winters wie Anfang des Jahres. Und der Roman wäre akzeptabel geworden. So bleibt unterm Strich ein grober Unfug.
Manfred Reuter, Emons
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