Schneckenkönig
- Grafit
- Erschienen: Januar 2013
- 4
- Dortmund: Grafit, 2013, Seiten: 252, Originalsprache
Multikulti mit Nazis & Missionaren
Rainer Wittkamp ist ein versierter, erfahrener Autor zahlreicher Fernsehdrehbücher. "Soko Leipzig", "Soko Wismar", sogar "Unser Charly" ein Profi also. Ein Profi, der sich gesagt hat: Natürlich kann ich auch einen Krimi schreiben, ich kenne die Polizeiarbeit, ich weiß, wie Leute miteinander umgehen; und ich weiß genau, was so ein Krimi braucht.
So muss das gewesen sein, denn Schneckenkönig ist in der Tat äußerst professionell verfasst. Eine Spur zu professionell, allerdings.
Die Leiche eines Schwarzen wird aus dem Kanal gefischt. Kommissar Buchwald, der eigentlich ermitteln sollte, ist allerdings auf einem Seminar, und so kommt ein Mann aus der Abteilung ZSE II C 1 zurück in die Mordermittlung: Martin Nettelbeck, bis vor ein paar Jahren erfolgreicher, wenn auch eigenbrötlerischer Ermittler mit wenig populären Methoden und nicht gerade beliebt. Immerhin hatte er mal einem Kollegen das Leben gerettet, aber am Ende galt er als unberechenbar und unkommunikativ. Als er dann einem Kollegen ins Bein schoss, war Schluss. Nettelbeck wurde versetzt und musste fortan die Berliner Polizei mit Bürobedarf versorgen:
"Die Tätigkeit war noch langweiliger, als er befürchtet hatte. Druckereinheiten mit Multifunktionspapier auszustatten, Briefumschläge nach ISO 269 oder DIN 678 zu unterscheiden, Bleistifte nach einundzwanzig Härtegraden sortiert zu ordern, von 9B über HB bis 9H zweifellos das Grauen, der Gipfel an Langeweile."
Dass ein solcher Detailreichtum auch für die geneigte Leserschaft schnell den Gipfel an Langeweile erreichen kann, scheint Wittkamp dabei gelegentlich außer Acht zu lassen. Ausführungen über die Geschichte von Landesvertretungen, die Berliner Immobilienblase nach der Wende oder afrikanische Riten steckt man noch halbwegs weg, wenn aber jedes Kleidungsstück von Nebenfiguren genau katalogisiert wird oder die Kommissare ziemlich wild durch Berlin kreuzen und praktisch jede Straßenecke genannt und eingeordnet wird, siehts anders aus. Auch wenn die Orte oft mit biographischen Bezügen versehen werden das sind einfach zu viele Details. Rainer Wittkamp sagt uns damit natürlich: Ich kenne Berlin bestens; und ich hab erstklassig recherchiert. Hätte Wittkamp mit seinen Rechercheergebnissen etwas weniger auf den Putz gehauen, wäre der Roman deutlich besser geworden.
Nein, schlecht ist Schneckenkönig wirklich nicht. Beispielsweise ist der Plot sehr schön und wohltuend ohne aufgesetzte Zufallsverwicklungen entwickelt. Am Anfang steht für den wiedergekehrten Ermittler mit seinem jungen Kollegen, dessen Urur-ur-urgroßvater den Schinderhannes erwischt haben soll, die Frage: Woher kommt der Schwarze? Natürlich kann er Berliner sein, er kann aus Afrika kommen, aus den USA also wird ein Anthropologe aufgesucht, der aus den Narben im Gesicht des Toten schließt:
"Es handelt sich um einen Westafrikaner. Zweifelsfrei. Und zwar um einen Ghanaer. Vermutlich aus der Brong-Ahafo-Region, [...] ja, der Mann ist vom Stamm der Aduana. Könnte in der Umgebung von Sunyani aufgewachsen sein, an der Grenze zu Côte dIvoire. Aber im letzten Punkt möchte ich mich nicht festlegen."
So verblüfft wie die Ermittler sind auch wir das ist beabsichtigt und halbwegs okay. Na ja, jedenfalls fahndet das Duo wie im Fernsehkrimi fortan in der afrikanischen Gemeinde. Immer mit dem Misstrauen im Hintergrund, das seine ehemalige Konkurrentin und jetzige Vorgesetzte ihm entgegenbringt, schlägt sich Nettelbeck mit seinem Assistenten also durch die Hauptstadt. Dass schon die Identifizierung der Leiche schleppend verläuft, weil niemand die Wahrheit sagt, und dass die beiden schließlich auf ein dubioses Missionswerk stoßen, steht schon im Klappentext.
Unterbrochen wird der durchaus vorhandene Lesefluss immer wieder durch kursive gesetzte Einschübe, in denen es um den titelgebenden Schneckenkönig geht. Das ist clever gemacht und gut verschachtelt, stört aber manchmal; auch weil gerade hier die Sprache zwar literarisch sein will, es aber nicht schafft. Überhaupt begibt sich Wittkamp mit vielen Formulierungen, die Spannung erzeugen sollen, sprachlich an den Rand des Boulevardjournalismus.
Klingt das jetzt alles zu negativ? Nein: Schneckenkönig ist ein gut lesbarer, unterhaltsamer Roman, der immer spannend bleibt und auch mit Humor überzeugen kann. Die Hauptfiguren sind bestens entwickelt, allen voran Martin Nettelbeck: Seit Glausers Wachtmeister Studer funktioniert der Trick, einen eigentlich zurückgestuften Kriminaler ermitteln zu lassen. Und auch die Nebenfiguren sind lebendig, wenn auch hin und wieder der politischen Korrektheit wegen etwas zu leicht zu durchschauen die blöden Nazis, die guten Afrikaner, die Karrierefrauen. Und die Dialoge, das wunderte mich bei einem mit allen Wassern gewaschenen Drehbuchautoren, holpern manchmal ganz schön. Vielleicht sind das gerade die Momente, in denen die Grenze zwischen Professionalität und Überheblichkeit verschwimmt:
"Das kannst du deiner Oma erzählen."
Na, das will ich nicht unbedingt lesen in einem Krimi aus dem Jahre 2013.
Ein positiver Aspekt noch zum Schluss: Der eigenwillige, aber sympathische Nettelbeck ist nebenbei ein Posaunist, der sich viele Gedanken zu seinem Instrument macht und gelegentlich zu Music-minus-one-CCs spielt, also zu CDs, bei denen zu Übungszwecken der Posaunenpart fehlt. Und er schwadroniert über Komponisten und Spieler von Giovanni Pierluigi bis Urbie Green. Damit und mit anderen Erwähnungen liefert er einen ziemlich guten Soundtrack. Klar, auch hier gilt: Ein bisschen weniger wäre mehr gewesen.
Rainer Wittkamp, Grafit
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