Schatten über Bedford Square

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2001
  • 1
  • New York: Ballantine, 1999, Titel: 'Bedford Square', Seiten: 330, Originalsprache
  • München: Heyne, 2001, Seiten: 375, Übersetzt: K. Schatzhauser
  • München: Heyne, 2002, Seiten: 477
  • München: Pavillon, 2007, Seiten: 477
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Michael Drewniok
35°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Erst Ernüchterung, dann Langeweile und schließlich milder Zorn

London im Juni des Jahres 1891: Im vornehmen Stadtteil Bedford Square wird des Nachts vor dem Haus des Generals Brandon Balantyne die Leiche des Straßenverkäufers Albert Cole entdeckt - erschlagen mit dem berühmt-berüchtigten stumpfen Gegenstand. Der Mord fällt in die Zuständigkeit des Oberinspektors Thomas Pitt von der Polizeiwache Bow Street. Balantyne ist ihm nicht unbekannt, hat er ihn doch bereits während der Ermittlungen zu zwei früheren Mordfällen kennen gelernt ("Callander Square", 1980; "Tod am Devil's Acre", 1985).

Bei der Leiche wird eine wertvolle Schnupftabaksdose aus dem Besitz des Generals sichergestellt. Pitt mag indes nicht an einen einfachen Diebstahl und einen anschließenden Streit um die Beute glauben, denn wieso ist dann die Dose nicht mit dem Mörder verschwunden? Balantyne scheint ihm verdächtig. Dieser Spur nachzugehen, erfordert allerfeinstes Fingerspitzengefühl: Die Angehörigen der Oberschicht sind in der Ära Königin Victorias quasi sakrosankt. Darüber hinaus vermag selbst der Hauch eines Verdachtes, sei er nun gerechtfertigt oder nicht, den Betroffenen mitsamt seiner Familie ins gesellschaftliche Aus zu stoßen.

Kapitän Cornwallis und General Balantyne werden erpresst

Niemand weiß dies besser als Kapitän John Cornwallis, der als stellvertretender Polizeipräsident der unmittelbare Vorgesetzte Pitts ist. Er wird seit kurzem erpresst; eine heldenhafte Rettungstat aus Marinetagen sei gar nicht von ihm begangen worden, heißt es - ein weiterer Fall, um den sich Pitt diskret kümmern muss, doch eigentlich auch wieder nicht: Seine Gattin Charlotte, die auf freundschaftlichem Fuß mit General Balantyne steht, wird von diesem ins Vertrauen gezogen: Auch er hat ein Erpresserschreiben ganz ähnlichen Inhalts wie Cornwallis erhalten!

Pitts Nachforschungen führen zu noch vier weiteren Opfern, alles einflussreiche Männer in hohen Positionen. Das scheint jedoch die einzige Gemeinsamkeit zu sein. Seltsamerweise erhebt der Erpresser keinerlei Geldforderungen; er scheint es eher zu genießen, Schrecken zu verbreiten. So hat bereits einer der Unglücklichen Selbstmord begangen. Allerdings finden die Pitts allmählich heraus, dass die Opfer ganz und gar nicht unschuldig sind. Ein unbekannter Rächer straft sie für ruchloses Tun - und er gedenkt nicht davon abzulassen, bis sein Werk getan ist ...

Das Leben - ein Gesellschaftskrieg

Der 19. Thomas und Charlotte-Pitt-Roman präsentiert wie gehabt eine Kriminalgeschichte aus dem London des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Hinter der genretypischen Handlung um einen Mord und seine Aufklärung tritt einmal mehr das Drama einer Gesellschaft hervor, deren Regeln, einst definiert als Leitlinien, die das Zusammenleben erleichtern sollten, sich in Würgestricke verwandelt haben, die nun alle zwischenmenschlichen Beziehungen überwuchern und zu ersticken drohen. Für Anne Perry ist das Leben stets ein tödlicher Kampf Schein gegen Sein, ausgetragen in 'historischer' Kulisse. Zeit und Ort sind im Grunde nebensächlich. Die Handlung ist nicht besonders spezifisch und könnte praktisch zu jedem beliebigen Zeitpunkt zwischen 1800 und 1900, wenn nicht sogar früher oder später spielen. Perry setzt historische Realität nur sparsam und zudem erstaunlich ungeschickt ein; sämtliche Bezüge zu tatsächlichen Ereignissen des Jahres 1891 wirken ausgesprochen aufgesetzt.

Gefühlsdusel ersetzt Krimilogik

Ungeachtet dessen wirkt der Plot zunächst gut erdacht und wird spannend umgesetzt. Leider weicht Perry im letzten Kapitel ziemlich abrupt und logisch schwer nachvollziehbar von der zuvor kunstvoll gesponnenen Verschwörung in höchsten Regierungskreisen ab. Statt dessen wird die Geschichte konventionell und wenig überzeugend in einem Finale aufgeklärt, das zudem schamlos auf die Tränendrüse drückt und zu schlechter Letzt plump mit einem melodramatischen, an ein mittelalterliches Gottesurteil erinnernden Knalleffekt schließt.

Missmut erregt darüber hinaus die Figurenzeichnung, deren Eindimensionalität besonders in den Nebenrollen auf die Perry-typische Verknüpfung von Elementen des Mystery-Thrillers mit denen der Gaslicht-Romantik hinweist. Allerdings weiß die Autorin dieses Mal in etwa die Balance zu halten und verliert sich nicht in den gesellschaftkritischen Holzhammer-Allegorien der späteren William Monk/Hester Latterly-Romane.

Perry mit ihrer ganz eigenen Kitschigkeit

Neben Thomas und Charlotte Pitt sind in "Schatten über Bedford Square" Wachtmeister Samuel Tellman und Gracie Phipps, das Hausmädchen, getreten. Während Perry mit Tellman, dem einfachen Polizisten, der gesellschaftliche Schranken nicht als von Gott gegebenes Schicksal hinnehmen mag, ein vielschichtiger Charakter gelungen ist, kann Gracie als allzu theatralische Mischung aus Wolfskind und Lumpenprinzessin mit Herz, Schnauze und auch noch Köpfchen weniger überzeugen. Da sich zwischen Tellman und Gracie seit einiger Zeit zarte Bande entspinnen, scheint Perry zudem mit der ihr eigenen Kitschigkeit die Liebes- und Lebensgeschichte der Pitts im Milieu der Unterprivilegierten nacherzählen zu wollen.

Denn noch immer setzt Perry Gefühlsregungen so in Szene, als gälte es einen Stummfilm zu drehen: "[Pitt] sah Balantyne aufmerksam an, konnte auf dessen Zügen aber keine erkennbare Veränderung wahrnehmen. Weder presste er die Lippen aufeinander, noch umschatteten sich seine Augen." Hätte dieser Verdächtige dagegen die Tat begangen, wäre ihm im Perry-Reich der großen Gesten vermutlich Rauch aus den Ohren gestiegen, auf dass noch der dümmste Leser den Braten rieche ... Die Übersteigerung der simpelsten Gemütsregungen ins Theatralische wirkt rasch ermüdend und schlägt ins Lächerliche um.

Läuft der Perry-Schreibautomat heiß?

So beginnen sich nach einem recht verheißungsvollen Auftakt bald Ernüchterung, dann Langeweile und schließlich milder Zorn (stärkere Gefühle weiß die Autorin nicht zu erwecken) einzustellen. Womöglich übertreibt es Anne Perry, die ihre Feder schneller zieht als ihr Schatten, allmählich mit ihrer Arbeitswut. Statt mit der Präzision einer Schweizer Kuckucksuhr jährlich je einen Pitt und Monk/Latterly-Roman auszustoßen (wozu seit einiger Zeit noch serienunabhängige Geschichten sowie eine neue Serie grauenhafter, pseudo-autobiografisch-esoterisch-erbaulicher Werke zum Lobe des HERRN kommen), sollte sie, was die Tiefe ihrer Geschichten angeht, zumindest den Versuch wagen, in die zweite Dimension vorzustoßen ...

Schatten über Bedford Square

Anne Perry, Heyne

Schatten über Bedford Square

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