Unter dem Auge Gottes
- Diaphanes
- Erschienen: Januar 2013
- 2
- New York: Mysterious Press, 2012, Titel: 'Under the eye of god', Originalsprache
- Zürich: Diaphanes, 2013, Seiten: 256, Übersetzt: Jürgen Bürger
- Zürich: Diaphanes, 2017, Seiten: 276, Übersetzt: Jürgen Bürger
Wenn es so war, kann es sein, und wenn es so wäre, würde es sein, aber da es nicht ist, ist es nicht. Das ist logisch.
Isaac "Citizen" Sidel, der "Big Guy" mit der Glock steht 1988 kurz vor der Ernennung zum Vizepräsidenten, erlebt seine letzten Tage als Bürgermeister New Yorks und wird als heimlicher Mr. President gehandelt. Denn sein Protegé J. Michael Storm, fast bereit ins Weiße Haus einzuziehen, ist ein unzuverlässiger Kandidat, den seine Verfehlungen jederzeit zu Fall bringen können. Im Gegensatz zu Sidel, der aus jeder Schlacht mit mehr Renommee hervorgeht, egal ob er betrügt, tötet oder seinem Hang zu Amour fous nachgeht. Denn Sidel ist der Mann mit dem hehren Anliegen, der in Jerome Charyns Paralleluniversum dafür sorgt, dass New York und die Menschlichkeit nicht vor die Hunde gehen. Gerade weil er zu seinen Fehlern steht, das Gute will und nicht immer schafft, lieben ihn die meisten Menschen, sehen in ihm den wahren und erwünschten Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Attentate, eine verzweifelte Liebe, ein höllischer Roadtrip durch Texas, der in einem blutigen Showdown endet, und mittendrin David Pearl, der schwerreiche Manipulator und Immobilienspekulant. Pearl ist der Ziehsohn und ehemalige (geniale) Bankbuchhalter des legendären Gangsters und unverbesserlichen Wettsüchtigen Arnold Rothstein. Nach Rothsteins gewaltsamen Ableben fütterte David Pearl den kleinen Isaac Sidel mit Geschichten über dessen dunkles Idol, bis Sidel ihm über den Kopf wuchs, und er verzweifelt versuchte, ihn zurechtzustutzen, in einer Mischung aus tödlichem Marionettenspiel und Inthronisierung. Doch am Ende wird Pearl die Dämonen, die er rief, nicht los und Isaac Sidel, der Tollpatsch, der wehmütige Troubadour, der rächende Killer und angehende Präsident läuft zu großer Form auf. Auch wenn es ihm das Herz bricht.
Unter dem Auge Gottes mag in Nebenraum und zeit spielen, und erzählt doch viel vom Leben im ausgehenden Zwanzigsten Jahrhundert. Das Militär als Handlanger privater Interessen bekommt beiläufige, aber einprägsame Beschreibungen, die nur Teil des wahren Machtgefüges sind: Finanz- und Wirtschaftskräfte manipulieren die Politik massiv, überall werden Bündnisse, meist Zweckgemeinschaften geschlossen, doch die sind wackelig, der Freund von heute ist der Verräter von morgen, manchmal beides gleichzeitig. Und zwischendurch bringen Emotionen, Obsessionen das fragile Gebäude bedenklich zum Schwanken.
In Charyns Buch bekommt jenes Gebäude sogar einen Namen; das legendäre Hotel "The Ansonia", in dem Berühmtheiten wie Igor Strawinski, Theodore Dreiser, Cornell Woolrich, Babe Ruth, Jack Dempsey, Angelina Jolie, Natalie Portman und natürlich "The Big Bankroll" Arnold Rothstein residierten. Jetzt wird es beherrscht von David Pearl, jener Mischung aus Howard Hughes, bzw. seinem Alter Ego Citizen Kane, Mephisto und der Herz-König, dem Sidel den Krieg erklärt, weil er seine geliebte Bronx verhökert und Trudy Winckleman, genannt Inez (nach Rothsteins großer Liebe), die wahnhaft Begehrte als Druckmittel gegen Isaac missbraucht. Von dessen Geschichten Sidel aber nicht loskommen kann, die vom Leben und Sterben des schillernden Arnold Rothstein handeln und gleichzeitig Pearls eigenen sowie Isaac Sidels unaufhaltsamen Aufstieg wortreich bebildern.
Der Roman funktioniert als fintenreicher Polit-Thriller voller großartiger Tableaus alleine der überraschende Shoot-Out in der texanischen Ödnis ist ein szenisches Meisterstück und als stilvolles mythopoetisches Werk voller literarischer, filmischer und musikalischer Verweise. Man muss sie nicht wahrnehmen, um Sidel und seiner Entourage mit Genuss folgen zu können, doch bereichern sie den Text um eine Ebene, die glauben macht, dass eine innige Verbindung von Kunst und Leben möglich ist; in der Hamlets düsterer Nachfahre gleichzeitig der weiße Reiter mit dem Wunderpferd ist, der seine Angebetete aus jeder bedrohlichen Situation rettet sowie der schwarze Ritter aus Gotham City, der immer einen Tick zu spät kommt, um danach umso obsessiver für seine Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit zu kämpfen. Das Volk, irgendwo im schattenhaften Hintergrund klatscht begeistert Beifall anstatt ihn lynchen zu wollen, während der einsame, sich bereits langsam auflösende alte Mobsterkönnig sachte aus dem Bild getragen wird.
Jerome Charyns Bücher sind ein eigenes Universum, das es hoffentlich bald wieder komplett (im Handel) in deutscher Übersetzung zu entdecken gibt. Die erste Penser Pulp-Veröffentlichung im Diaphanes-Verlag legt den Grundstein. Manfred Coen, der blauäugige, tischtennisverrückte Bulle, die wilde Tochter Marilyn, und die magische Geliebte Margret Tolstoi im vorliegenden Buch im Dornröschenschlaf sind vor Ort oder in der Erinnerung anwesend. Wäre doch zu schade, sich in ihre Geschichten nicht weiter vertiefen zu können.
Jerome Charyn, Diaphanes
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