Der letzte Tag der Unschuld

  • Limes
  • Erschienen: Januar 2013
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  • Rio de Janeiro: Editora, 2009, Titel: 'Se eu fechar os olhos agora', Originalsprache
  • München: Limes, 2013, Seiten: 350, Übersetzt: Kirsten Brandt
Der letzte Tag der Unschuld
Der letzte Tag der Unschuld
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Jörg Kijanski
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2013

Brasilien 1961: Moralische Abgründe in Zeiten des Wirtschaftswunders

Es ist der 12. April. Während der russische Astronaut Yuri Gagarin die Erde umrundet schwänzen die beiden zwölf Jahre alten Eduardo und Paulo die Schule, wo ohnehin nur eine Strafarbeit auf sie wartet. Dann doch lieber im See schwimmen, was sie allerdings bereuen, als sie dort über die Leiche einer jungen, brutal ermordeten Frau stolpern. Schnell wird klar, dass es sich um Anita, die Frau des Zahnarztes Andrade handelt. Kaum hat die Polizei die Ermittlungen aufgenommen, werden diese schon wieder eingestellt, denn Andrade gesteht die Tat. Paulo und Eduardo können nicht glauben, dass der schwächliche, alte Mann ein derartiges Verbrechen begangen haben kann und versuchen den wahren Täter zu finden. In der folgenden Nacht dringen sie in dessen Praxis ein, wo sie aber keine verwertbaren Spuren finden. Dafür kommen sie einem älteren Mann namens Ubiratan in die Quere, der offenbar dieselbe Idee hatte. Sie folgen ihm und bitten ihn am nächsten Tag, ihnen bei ihren Bemühungen zu helfen.

 

"Wir wissen, dass wir keine kleinen Kinder mehr sind. Paulo nicht und ich auch nicht.""Nein, sind wir nicht.""Aber ihr Erwachsenen haltet uns immer noch für Babys.""Genau."
"Gerade eben haben Sie uns noch Kinder genannt."
"Eben."
"Und genau deshalb, weil ihr glaubt, das Paulo und ich bloß kleine Kinder sind, können wir eine Menge Sachen über den Mord an der Frau vom Zahnarzt herausfinden, ohne dass es jemand bemerkt."

 

So ermittelt fortan eines der wohl ungewöhnlichsten Trios in der Geschichte des Kriminalromans. Es stellt sich heraus, dass Anita eigentlich Aparecida heißt und als Waisenkind im Alter von fünfzehn Jahren mit Dr. Andrade verheiratet wurde, der zum damaligen Zeitpunkt bereits auf die Fünfzig zuging und bis dahin nie mit einer Frau zusammen gesehen wurde. Ubiratan entdeckt, dass Anita der gesamten Elite der Stadt für deren sexuelle Ausschweifungen zur Verfügung stand, während ihr Ehemann offenbar Spaß daran hatte, sie bei ihren Misshandlungen zu fotografieren. Aber wer könnte plötzlich daran interessiert sein, Anita umzubringen? Der Bürgermeister, der mächtigste Industrieboss oder eine gehörnte Ehefrau?

Der letzte Tag der Unschuld ist der erste Kriminalroman von Edney Silvestre, der in Brasilien mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Er spielt im Jahr 1961 und somit in einer Zeit, in der das Land am Beginn eines Wirtschaftswunders steht, nachdem es eine Diktatur, in der auch Ubiratan gefoltert wurde, überstanden hat. Doch die positive Entwicklung, welche sich selbst im Hinterland bemerkbar macht, ist vor allem dem Bürgermeister zu verdanken, der – und dessen Vorgänger – ihre (besonders) schmutzigen Finger in diesem ekelhaften Spiel haben. Denn unter der aufgesetzten Fassade der Wohlanständigkeit agiert ein gefährliches Geschwür; eine abgründige Doppelmoral, denn nicht alle Frauen werden von der Gesellschaft akzeptiert. Es gibt – je nach Abstammung oder Herkunft – eben auch jene wie Aparecida / Anita, die in den Augen der Mächtigen (und anderer Männer) nur einen Zweck haben; sie sollen deren sexuelle Wünsche erfüllen, egal wie ausgefallen und abstoßend diese sein mögen. So entsteht ein gefährlicher Cocktail aus politischer Korruption, drastischer Gewalt und einem haarsträubenden Inzest.

Die beiden zwölfjährigen Protagonisten spiegeln dabei die unterschiedlichen gesellschaftlichen Welten. Eduardo kommt aus normalen Verhältnissen, die Eltern gehen beide geregelten Berufen nach und sorgen für ihr Kind. Bei Paulo regiert zuhause meist rohe Gewalt. Zudem bevorzugen Paulos Vater sowie sein stark pubertierender, sechzehnjähriger Bruder die Nächte im städtischen Bordell zu verbringen.

Die Handlung bringt es mit sich, dass der Inhalt mitunter brutal, die Sprache oft vulgär und menschenverachtend ist. Dennoch ist Der letzte Tag der Unschuld ein lesenswerter Roman mit einem nicht alltäglichen Plot. Zumal der politische Hintergrund in Brasilien – die Jahre zwischen zwei Diktaturen (die nächste folgte 1964) – hierzulande weitgehend unbekannt sein dürften.

Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass der Plot mit herkömmlichen Maßstäben gemessen auch seine Schwächen hat. Warum ermitteln zwei Zwölfjährige in einem Mordfall? Die Motive von Ubiratan vermag man ebenfalls nur zu erahnen. Dazu verhalten sich die beiden Teenager mitunter sehr erwachsen und zu guter Letzt dürften vor allem die Dialoge den einen oder anderen Leser auf Dauer nerven. Eduardo und Paulo, hier wieder ganz Kind, wiederholen häufig gleiche Aussagen, während Ubiratan zumeist Antworten gibt, auf Fragen die keiner gestellt hat beziehungsweise mit Gegenfragen antwortet, deren Sinn sich nicht immer auf Anhieb erschließt.

"Warum antworten Sie nicht auf Fragen wie andere Leute?"
"Und wie antworten die?"
"Warum sagen Sie nicht einfach ja oder nein wie alle anderen?"
"Nicht jede Frage kann mit ja oder nein beantwortet werden, Paulo."
"Immer wenn ich zu Ihnen etwas sage, machen Sie, dass ich an was anderes denke, das weiter vorne liegt."
"Das ist gut."
"Wieso ist das gut? Mein Kopf steckt dann bloß voller Fragen."
"Das ist besser, als wenn er voller Antworten steckt."

Ein interessantes Debüt, an das man sich herantrauen sollte. Und ja, neben all dem Schrecken ist es auch ein Roman über eine große Freundschaft.

Der letzte Tag der Unschuld

Edney Silvestre, Limes

Der letzte Tag der Unschuld

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