Chourmo
- Unionsverlag
- Erschienen: Januar 2000
- 6
- Paris: Gallimard, 1996, Titel: 'Chourmo', Originalsprache
- Zürich: Unionsverlag, 2000, Seiten: 268, Übersetzt: Katarina Grän und Ronald Voullié
Das meint Krimi-Couch.de: Izzos Sozial- und Gesellschaftskritik ist glaubhaft und konsequent
"Tötet sie alle. Gott wird die Seinen erkennen" (Simon de Montfort)
Nach den Ereignissen in "Total Cheops", dem ersten Teil der Marseille - Trilogie, hat Fabio Montale seinen Dienst als Polizist quittiert. Die Jugendfreunde Manu und Ugo sind tot, und Lole hat ihn mittlerweile verlassen.
Fabio hat sich in seine Hütte am Meer zurückgezogen und möchte die Vergangenheit verdrängen. Er verbringt seine Zeit, mit seinem Boot aufs Meer hinauszufahren und zu fischen, nachmittags Karten zu spielen, gut zu essen, Whisky zu trinken und stundenlang durch die Buchten von Marseille zu wandern.
Doch die Idylle währt nicht lange. Seine Cousine Gélou sucht ihn äußerst beunruhigt auf und bittet um Hilfe. Ihr jüngster Sohn Guitou ist verschwunden und seit Tagen nicht auffindbar. Seine neue Freundin Naima stammt aus einer algerischen Einwandererfamilie. Aber Gélous Lebensgefährte Alex ist Rassist, und Gélou teilt seine Ansichten. Zwischen Alex und Guitou entwickelte sich deshalb eine Feindschaft, die oft in tätliche Auseinandersetzungen ausartete. Nach dem letzten Eklat verschwand Guitou.
Widerwillig macht sich Fabio auf die Suche, er hält die Sache für eine harmlose Angelegenheit von zwei verliebten Jugendlichen.
Unterwegs zur Familie Naimas wird er Zeuge eines Mordes: Serge, ein Sozialarbeiter in den Einwanderervierteln und Kollege von früher, wird auf offener Strasse erschossen. Er war offenbar einer gefährlichen Verschwörung islamischer Fundamentalisten auf der Spur. In weiterer Folge muss Fabio erkennen, dass Guitou kaltblütig ermordet wurde, als er in der Wohnung eines Freundes mit Naima zusammen war. Aber warum wurde er getötet? Und wo ist das Mädchen?
Bald ist ihm auch ein Killer auf den Fersen, den Fabio in einem rasanten Showdown auszuschalten versucht...
Die Marseille - Trilogie von Jean Claude Izzo ist ein sehr persönliches und leidenschaftliches Bekenntnis eines politischen Autors zu seiner Heimatstadt. Izzo liebt Marseille und wie jede grosse Liebe schließt diese auch Unzulänglichkeiten und Schattenseiten ein.Marseille ist geprägt von seinen Einwanderern aus Nordafrika, dem Arabischen Raum bis hin zu Italien. Fabio Montale, der Held der Trilogie, stammt selbst aus einer neapolitanischen Familie. Diese Collage aus Menschen unterschiedlicher Herkunft macht den Charakter und die Atmosphäre der Stadt aus, ist aber auch Ursache der massiven gesellschaftlichen und sozialen Probleme, denen Izzo in seinen Büchern breiten Raum bietet.
Bei Jean Claude Izzo muss man wissen, worauf man sich einlässt: Auf einen sehr leidenschaftlichen Schriftsteller, der sich nicht scheut, seine Leidenschaften in ihrer gesamten dynamischen Bandbreite zu artikulieren. Verzweiflung ist immer die grosse Verzweiflung, Hass immer der abgrundtiefe Hass, Sehnsucht die Unendliche, Liebe die Unerfüllbare. Gelegentlich nähert er sich in einem Ausbruch von Wut oder Verzweiflung dem Operettenhaften, aber für einen Südländer wie Izzo ist das in Ordnung, er muss ja stilistisch nicht so schreiben wie Fossum oder Mc Dermid.
Er ist ein engagierter und glaubhafter Anwalt der Jugendlichen aus den trostlosen Einwanderervierteln. Dort herrscht Gewalt, Willkür, Rassismus in jeder Richtung, eine gewalttätige Polizei in der Nähe zur Front National, Arbeitslosigkeit, Armut, Menschen ohne Hoffnung oder Zukunft. Izzo ergreift als genauer Beobachter voller Mitgefühl Partei für diese Menschen abseits der sauberen Leistungsgesellschaft, er zeigt die Kehrseite der Medaille. Deshalb heißt dieses Buch "CHOURMO", so nannte man die Rudersklaven auf französischen Galeeren.
"Es gab einen Chourmo - Geist. Man gehörte nicht mehr zu einem Viertel oder einer Vorstadt. Man war Chourmo. Man ruderte in derselben Galeere! Um rauszukommen. Zusammen. Rastafada eben!"
Hintergrund:
1209 fiel ein starkes Heer aus Nordfrankreich im südlich gelegenen Languedoc ein, einer damals unabhängigen Grafschaft, welche sprachlich, kulturell und politisch nicht nur hochentwickelt war (Viele französische Adelige konnten nicht einmal lesen oder schreiben), sondern dem spanischen Aragon oder Castilla ähnlicher als Frankreich. Die Religion wurde von den Katharern beeinflusst (Davon leitet sich der Name "Ketzer" ab), es herrschte religiöse Toleranz.
Das war der Grund, warum Papst Innozenz III. in damals guter katholischer Tradition - den Einfluss der Kirche und den Füllungszustand der päpstlichen Schatzkammer zu sichern - die am höchsten entwickelte Kultur des Mittelalters in Schutt und Asche legen ließ.
Unter Führung des berüchtigten Simon de Montfort wurde alles Leben vernichtet, Männer, Frauen und Kinder ermordet, zu Tode gefoltert oder am Scheiterhaufen verbrannt. Die okzitanische Sprache des südfranzösischen Raumes wurde unterdrückt und wird seit langem nicht mehr gesprochen. Die Städte Toulouse, Beziers und besonders, als letzte gefallene Festung, Montségur gelten heute den Unabhängigkeitsaktivisten als Symbol für den Widerstand der südfranzösischen Kultur gegenüber dem Pariser Zentralismus.
Eine wesentliche Rolle auf der Suche der von der Gesellschaft ausgegrenzten und hoffnungslosen Jugendlichen, abseits vom staatlich zentralistischen Einfluss, spielt neben der Fussballmannschaft Olympique Marseille die Musikergruppe Massilia Sound System. Diese Gruppe, 1984 als Trio gegründet, heute ein Quintett, setzt sich entschieden für die Eigenständigkeit und Abgrenzung der Jugendlichen ein. Ihre Musik ist eine Mischung aus Reggae, Rap, Folklore und elektronischen Elementen. Die Texte behandeln den Alltag, die Sprache ist eine Besonderheit: Eine Verbindung von Okzitanisch mit regionalen Dialekten. Was hat es damit auf sich?
Um das zu verstehen, muss man ins Jahr 1209 zurückgehen, in dem es zum ersten Genozid in Europa kam (siehe "Hintergrund"). Massilia Sound System, deren neues Album bezeichnenderweise "Occitanista" heißt, möchten ihre Zuhörer zum Okzitanisch - Sprechen animieren und so das Bewusstsein stärken, dass Zweisprachigkeit eine große Bereicherung darstellt. Sie stellen sich in ihren Texten gegen Rassismus und Rechtsextremismus. "CHOURMO" bedeutet auch einen lockeren Zusammenhang der Jugendlichen als Unterstützer oder Fangruppe von MSS, man trifft sich, kümmert sich um Soundsysteme, arrangiert günstige Reisen zu Konzerten. Entscheidend ist, dass die Leute zusammenkommen, sich "mischen", wie man in Marseille sagt.
Izzo ist ein konsequenter, emotioneller, politisch denkender Autor, der seine persönliche Betroffenheit schonungslos darlegt. Gleichzeitig bietet er ein faszinierendes, großangelegtes Portrait von Marseille, ihrer Atmosphäre bis in detaillierte Beschreibungen kulinarischer Ereignisse. Die Rahmenhandlung ist spannend, plausibel, Fabio wirkt als Person authentisch, trotz aller Verzweiflung und Resignation ist er jedoch ein Mensch mit Hang zu Lebensfreude und Genuss.
In vielen Rezensionen oder Kommentaren liest man über Izzos Bücher nur von gutem Essen, mediterraner Stimmung und Urlaubszielen. Doch er hat es sich verdient, ernstgenommen zu werden, seine Sozial- und Gesellschaftskritik ist glaubhaft und konsequent.
Umso mehr ist es dem Herausgeber der Metro-Reihe im Unionsverlag, Thomas Wörtche, zu danken, dass er Schriftsteller wie Izzo umfassend ernst nimmt, die Verbreitung ihrer Werke ermöglicht und mit kurzen, kompetenten Kommentaren zu Leben und Werk das Verständnis erleichtert.
Es ist längst an der Zeit, dass die große Zahl der Autoren, die Kriminalromane schreibt, in ihrer unglaublichen stilistischen und künstlerischen Vielfalt von den Fesseln der Kategorisierung befreit werden. Überlassen wir dieses Schubladendenken den Kunst- und Schönheitstheoretikern in ihren Staubmänteln. Schließlich ist beispielsweise ein Liebesakt weit mehr als die Summe chemischer Reaktionen von Sexuallockstoffen.
Das Schlusswort hat Fabio Montale, in Gedanken an seinen Vater:
Jean-Claude Izzo, Unionsverlag
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