Nordermoor
- Bastei Lübbe
- Erschienen: Januar 2003
- 92
- Reykjavík: Vaka-Helgafell, 2000, Titel: 'Mýrin', Originalsprache
- Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 2003, Seiten: 320, Übersetzt: Coletta Bürling
- Bergisch Gladbach: Lübbe Audio, 2004, Seiten: 4, Übersetzt: Glaubrecht, Frank
- Augsburg: Weltbild, 2005, Seiten: 318
- Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 2006, Seiten: 318
- Köln: Lübbe Audio, 2011, Seiten: 4, Übersetzt: Frank Glaubrecht
Wofür haben wir Augen?
Wer im Sommer 2002 durch Reykjavik ging, dem mögen in den wenigen kleinen Buchhandlungen der isländischen Hauptstadt die Portraits von drei Schriftstellern aufgefallen sein: Neben dem wahnsinnigen Blick des verstorbenen Nobelpreisträgers Halldor Laxness und einem Mann mit Hut namens Halgrimur Helgason, dessen Roman "101 Reykjavik" gerade verfilmt worden war, waren da auch die Fotos eines Milchgesichts namens Arnaldur Indriðason. Und während Bücher der ersten beiden bereits auf deutsch erhältlich, aber keine Krimis waren, musste man auf eine Übersetzung eines Buches von Indriðason bis ins Frühjahr 2003 warten. Und das hat sich absolut gelohnt.
Island hat 280.000 Einwohner. Rund zwei Drittel davon leben in Reykjavik. Und weil das alles so überschaubar ist, gibt es in Island eigentlich nur Vornamen. Der Nachname sagt dann eigentlich nur noch, wessen Sohn oder Tochter jemand ist. Dies ist auch in der Übersetzung des Romans berücksichtigt, die Figuren werden nur mit Vornamen genannt und jeder duzt jeden. Die Stadt hat ein verhältnismäßig rasches Wachstum hinter sich, im Jahr 1800 lebten hier gerade mal 200 Menschen. Vor etwa 50 Jahren war die ins Meer ragende Landzunge komplett besiedelt und da die Stadt weiter wuchs, wurde das im Osten an die Innenstadt angrenzende Nordermoor überbaut. Und hier befindet sich der Tatort...
In einer Kellerwohnung findet die Polizei die Leiche eines rüstigen Endsechzigers, erschlagen mit einem Aschenbecher. Auf ihm ein Zettel mit einer drei Worte umfassenden Botschaft, was eigentlich das einzige Relikt ist, das nicht zu einem typischen isländischen Mord passt. Der Tote scheint ein Geheimnis zu bergen, das niemand kennt - außer dem Mörder.
Holberg, der Ermordete, war ein Sammler der perversen Sorte. Auf seinem Rechner findet die Polizei Unmegen von Pornofilmchen aus dem Internet. Vor fast vierzig Jahren war er bereits im Verdacht, seine Sexualtriebe nicht unter Kontrolle zu haben: Er wurde von einer Frau wegen Vergewaltigung angezeigt, jedoch freigesprochen. Kommissar Erlendur beginnt in Holbergs Vergangenheit zu suchen, aber die lange Zeit, die seitdem vergangen ist, behindert seine Ermittlungen. Die Frau, die Holberg damals angezeigt hatte, nahm sich Anfang der 70er-Jahre das Leben. Drei Jahre vorher war ihre Tochter im Alter von 4 Jahren an einer seltsamen Krankheit gestorben. Hinter Schubladen in Holbergs Schreibtisch findet die Spurensicherung ein sehr altes Foto vom Grab des kleinen Mädchens. Ist es Holbergs Tochter gewesen? Kann eine DNA-Analyse Aufschluss geben?
Die Freunde von Holberg, die ihn an jenem Abend der Vergewaltigung begleiteten, scheinen auch keine vielversprechenden Spuren bieten zu können. Der eine ist vor über fünfundzwanzig Jahren spurlos verschwunden, der andere sitzt seit mehreren Jahren wegen diverser Gewaltverbrechen im Gefängnis. Aber er erzählt, dass Holberg noch mit einer anderen Vergewaltigung geprahlt hat. Eine Tat, die offenbar nie angezeigt wurde. Was ist aus Holbergs verschwundenem Freund geworden? Kann die Polizei das Opfer von damals finden? Und falls ja, kann das überhaupt irgendwie bei der Suche nach dem Mörder weiterhelfen?
Indriðason schreibt mit sehr viel Können einen eindrucksvollen Kriminalroman, der absolut zurecht mit der Auszeichnung "Bester skandinavischer Krimi 2002" geschmückt ist. Seine Charaktere haben scharfes Profil, wobei besonders die Beschreibung der Hauptfigur Erlendur beeindruckt. Die düstere isländische Seele wird hier ganz hervorragend dem Leser nahe gebracht. Einsamer Kommissar, seit 20 Jahren geschieden, kein Kontakt zu seiner Exfrau und nur sehr selten zu seinen zwei erwachsenen Kindern. Seine Tochter hat Drogenprobleme, Schulden bei finsteren Gestalten und bekommt von irgendwem ein Baby. In dieser Situation sucht sie den starken Arm ihres Vaters. Im Lauf der Handlung wird die Entwicklung der Beziehung zwischen Vater und Tochter ein ganz elementarer Bestandteil der in den Roman eingebetteten Gesellschaftskritik, die sich von innerfamiliären Beziehungen bis zu den Gefahren von Datenschutz und Gentechnik zieht.
Was der Autor meisterhaft versteht: die Neugierde seiner Leser zu wecken. Auf der ersten Seite erwähnt er den rätselhaften Zettel auf Holbergs Leiche. Immer wieder rätseln die Polizisten über die Worte, aber der Leser erfährt erst in der Mitte des Buches, welche Worte dies sind. Dies fesselt den Leser in den ersten, von sehr düsterer Stimmung geprägten, Kapiteln. Hier entwickelt sich die Geschichte zunächst recht langsam. Sobald die drei Worte verraten sind, hat die Ermittlungsarbeit allerdings ein Tempo aufgenommen, dass man das Buch erst recht nicht mehr aus den Händen legen mag. Und da die Polizei an mehreren Fronten ermittelt, ist es umso lobenswerter, wie Indriðason die verschiedenen Schauplätze erzählerisch verbindet. Es ist kein wildes Hin- und Hergehoppse, bei dem man die Übersicht verlieren kann, sondern regelmäßig gelingen ihm flüssige Übergänge und Verbindungen.
Kritikpunkte sind mit dem Mikroskop zu suchen. Vielleicht mögen einige Gespräche zu schnell in kleine Monologe ausarten. Das passiert aber hauptsächlich bei ausgewählten Charakteren, Professoren und Ärzten, zu denen diese Eigenart gut passt. Die ständige Duzerei ist gewöhnungsbedürftig, aber typisch isländisch. Und die Tatsache, dass man vierzig Jahre alte Fälle durchwühlt scheint anfangs fragwürdig, in einem überschaubaren Land mit etwas mehr als einer Viertelmillion Einwohnern scheint das bei genauerer Betrachtung aber als probates Mittel.
Ein kleines Krimijuwel aus dem hohen Norden, das die Fans skandinavischer Kriminalliteratur begeistern kann. Und auf den letzten Seiten, wo der Roman einen ganz kleinen philosophischen Ansatz findet, lernt vielleicht der ein oder andere Leser durch eigene Erfahrung, dass man die Augen nicht zum sehen hat.
Arnaldur Indriðason, Bastei Lübbe
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