Hitchcock und die Geschichte von Psycho
- Heyne
- Erschienen: Januar 2013
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- New York: Dembner Books/W. H. Norton & Company, 1990, Titel: 'Hitchcock & The Making of Psycho', Seiten: 224, Originalsprache
- München: Heyne, 2013, Seiten: 412, Übersetzt: Lisa Kögeböhn, Bernhard Matt u. Uli Mayer
Filmklassiker wider Willen?
Filmhistoriker Rebello rekonstruiert die Geschichte des Horror-Thriller "Psycho". Er interpretiert nicht zum x-ten Mal dessen Subtext-Ebenen, sondern konzentriert sich auf die Fakten, d. h. erläutert, woher Alfred Hitchcock die Idee für diesen zu seiner Zeit bahnbrechenden Film nahm, beschreibt die Dreharbeiten und zeichnet nach, was nach bzw. durch "Psycho" in der Filmwelt geschah. Faktenreich und interessant geschrieben (aber leider nicht bebildert), ist dies ein mustergültiges Film-Buch nicht nur für Spezialisten.
Im November des Jahres 1957 nahm die Polizei von Plainfield im US-Staat Wisconsin den Gelegenheitsarbeiter und Sonderling Ed Gein fest. Er hatte eine Mitbürgerin umgebracht und ihre Leiche in seinem Schuppen kopfüber aufgehängt, um sie wie einen Hirsch auszunehmen. Im Haus fanden Beamte ein bizarres Sammelsurium von Artefakten, die Gein - der auch ein Grabräuber war – aus Leichenteilen und Knochen gebastelt hatte. Für seine Taten wurde er in eine Einrichtung für geisteskranke Verbrecher eingewiesen, wo er 1984 starb.
Geins Taten schlugen wie eine Bombe in das kollektive Bewusstsein US-Amerikas ein. Sie machten schonungslos deutlich, dass der Wahnsinn unter einer stillen, unauffälligen Oberfläche wuchern und dort unbemerkt bleiben konnte. Niemand war dagegen gefeit, die Schuld konnte weder den Liberalen noch den Sowjet-Teufeln zugeschoben werden. Dieser Irrwitz wurzelte im ganz alltäglichen Amerika. Wo hatte er sich noch versteckt?
Der Fall Ed Gein ging rasch in die Populärkultur ein. Der Autor Robert Bloch erkannte schnell, welche Geschichte hier für einen mutigen Schriftsteller zu erzählen war. Sein Roman Psycho wurde ein kleiner Bestseller – und erregte das Interesse eines Schwergewichts der Unterhaltungsindustrie.
Alfred Hitchcock stand Ende der 1950er Jahre nach einer ganzen Serie von Blockbustern auf dem Zenit seiner Karriere. Allerdings war er rastlos und unzufrieden, da er spürte, dass er sich zu wiederholen begann. Hitchcock wollte sich, seinem Publikum und seinen Kritikern beweisen, was wirklich in ihm steckte. Er studierte den Filmmarkt auf aktuelle Erfolge und entschied, für vergleichsweise wenig Geld einen Horrorfilm zu drehen, der gleichermaßen kunstvoll wie spannend werden sollte.
Unbeirrt aber mit einigen Schlenkern
Hitchcock ging bewusst ein Risiko ein. Sein Ruf stand auf dem Spiel, und das Geld war knapp: Jedes Hollywood-Studio hätte ihm liebend gern einen weiteren Mainstream-Thriller finanziert, scheute jedoch vor dem zurück, was Hitchcock jetzt vorschwebte. Dieser drehte "Psycho" deshalb nicht mit seiner "Film-Familie", sondern mit jenem Team, das die erfolgreiche TV-Serie "Alfred Hitchcock Presents" realisierte. Außerdem heuerte Hitchcock keine etablierten Stars an, sondern griff auf versierte Schauspieler der zweiten Garde oder Nachwuchstalente zurück.
Die Dreharbeiten gingen ohne besondere Probleme und zügig voran. In der Regel waren es filmtechnische Schwierigkeiten, die für Verzögerungen sorgten. Hitchcock, der erfahrene Veteran, nahm die Herausforderungen freudig an und bewältigte sie mit seinen motivierten Mitarbeitern. "Psycho" wurde zur Zufriedenheit der Beteiligten fertiggestellt und blieb – 1960 eine bemerkenswerte Leistung – erstaunlich ungerupft von der Zensur, der Hitchcock schlau einige Brocken zum Kürzen hingeworfen hatte.
Hitchcock hoffte auf einen Erfolg, wurde aber von der tatsächlichen Resonanz überwältigt. Angeschoben von einer ausgeklügelten Werbekampagne wurde "Psycho" ein Triumph – ein Meisterwerk der Spannung, das seiner Zeit ein gutes Stück voraus war sowie stilbildend für ein neues Sub-Genre wurde: den Slasher, der freilich noch eine Weile auf sich warten ließ, denn niemand wagte sich zunächst dorthin, wo Hitchcock den Boden so grandios bereitet hatte.
Der Preis des Triumphes
Hitchcock war mit "Psycho" endgültig auf dem Gipfel angekommen. Nun konnte es nur noch bergab gehen: Stephen Rebello vertritt den Standpunkt, dass sich Hitchcock quasi zu Tode gesiegt hatte. Nie wieder konnte er einen Film so problemarm realisieren, nie wieder gelang es ihm, den Thriller gleichsam neu zu definieren. Rebello geht sogar so weit zu behaupten, dass sich Hitchcock von "Psycho" nicht mehr erholte.
Hinzu kamen in das Alter und eine schwindende Gesundheit, denen Hitchcock den 1960er Jahren Tribut zollen musste. Rebello thematisiert auch den heftigen Johannistrieb, den Hitchcock schließlich nicht mehr kontrollieren konnte. Er bedrängte "seinen" Star Tippi Hedren ("Die Vögel", "Marnie"), erlebte eine Abfuhr und geriet in eine Krise.
Auch für die Schauspieler und für das Team hinter der Kamera war "Psycho" Meilen- und Mühlstein zugleich. Für Anthony Perkins wurde Norman Bates zum Fluch und später zum Segen, als er die Rolle ab 1983 dreimal wieder aufnahm. Janet Leigh ging durch die berühmte Duschszene in die Filmgeschichte ein. Unzählige Cineasten arbeiteten sich an Interpretationen von "Psycho" ab. Der Film wurde buchstäblich Bild für Bild analysiert, während ihn die filmende "Konkurrenz" mehr oder weniger offen kopierte.
Die Geschichte einer informativen Obsession
"Le Cinéma selon Hitchcock" hieß jener Interviewband, den François Truffaut – selbst ein berühmter Regisseur – 1966 veröffentlichte, nachdem er Hitchcock etwa 50 Stunden zu seinem Werk befragt hatte. Unter dem Titel "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" erschien eine deutsche Übersetzung bereits 1973. Dieses Buch wurde und wird immer wieder neu veröffentlicht, es gilt als Bibel der Hitchcock-Forschung.
Doch es gibt andere Standardwerke, und "Hitchcock & The Making of Psycho" gehört zu ihnen. Es erschien 1990 erstmals in den USA, nicht aber hierzulande. Vielleicht ließ Rebello den kunst- und sozialkritischen Ansatz vermissen, der die (deutsche) Film-Fachliteratur lange prägte, beschränkte sich auf die möglichst präzise Wiedergabe von Fakten und schwelgte allzu ausgiebig in unterhaltsamen Anekdoten. Dennoch hatte Rebello mit Truffaut ein seltenes Privileg gemeinsam: Auch er hatte mit Hitchcock persönlich sprechen können. Tatsächlich führte Rebello Anfang 1980 das überhaupt letzte Interview mit Hitchcock, bevor dieser am 29. April des Jahres starb.
Dass Hitchcock und die Geschichte von Psycho mit mehr als zwanzigjähriger Verspätung doch erschien, verdankt das Buch einem mittelmäßigen Film, dessen bescheidener Erfolg glücklicherweise nicht vorausgeahnt wurde, da Rebellos Hauptwerk wohl sonst weiterhin ohne Übersetzung und Verlag geblieben wäre. 2012 drehte Regisseur Sacha Gervasi den Film "Hitchcock" mit Anthony Hopkins in der Titelrolle. Er spielt während der Dreharbeiten zu "Psycho" und erzählt u. a. davon, wie die dabei auftretenden Schwierigkeiten die kriselnde Ehe von Alfred und Alma Hitchcock – gemimt von Helen Mirren – neu belebte. Das Drehbuch schrieb John J. McLaughlin, Rebellos "Psycho"-Dokumentation diente ihm als Steinbruch für die Hintergrundgeschichte.
Unter falscher Flagge
Wer den Film "Hitchcock" gesehen hat, wird, kann und soll ihn in Rebellos Buch nicht wiederfinden: Ein Sachbuch ging in eine Spielfilmhandlung ein und dort unter. Rebello wurde als "Berater" engagiert. So konnte sich das Studio auf ihn als "Psycho"-Fachmann berufen und hatte gleichzeitig einen potenziellen Hauptkritiker ins Boot geholt. In einem für die Neuausgabe 2012 neu verfassten, sehr ausführlichen Vorwort schreibt Rebello denn auch sehr freundlich über "Hitchcock", obwohl ihm die hollywoodtypische Trivialisierung seiner "Vorlage" keineswegs entgangen sein dürfte.
Aber Rebello ist als Journalist ein Profi. Persönlich mag "Hitchcock" einerseits seine Eitelkeit befriedigt haben, während ihm andererseits die Möglichkeit geboten wurde, sein "Psycho"-Buch zu überarbeiten, zu ergänzen und neu zu veröffentlichen: als "Buch zum Film", das womöglich mehr Leser als zuvor finden würde, auch wenn sich diese wundern könnten, dass Alma Hitchcock, die im Film buchstäblich eine Hauptrolle spielt, im "Psycho"-Buch höchstens in drei Nebensätzen Erwähnung findet.
Freilich erhält der Leser etwas viel Besseres als die übliche Nacherzählung eines Films, die ein unterbezahlter Vielschreiber produziert hat. Rebello erzählt die wahre "Geschichte von Psycho", mit der es keine Fiktion aufnehmen kann. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach "Psycho" fällt es einem abgebrühten, zynisch gewordenen Publikum schwer zu verstehen, welcher Tabubruch dieser Film in einer Zeit darstellte, als in Film und Fernsehen nicht einmal eine Toilettenschüssel gezeigt werden durfte! Notdurft, Sex, Wahnsinn, familiäre Perversion: Höchstens andeutungsweise und verschlüsselt gestattete die Zensur den Blick in menschliche Abgründe, die ansonsten totgeschwiegen werden sollten.
Eine Lanze für den dicken Mann
Ausgerechnet Alfred Hitchcock, der beleibte, scheinbar emotionslose oder besser: geschlechtsneutrale Mann, der stets im Anzug am Drehort erschien, rührte gleich an einer Serie von Tabus. Für "Psycho" musste er kämpfen, und er tat es zielstrebig und einfallsreich. Anders als im Film "Hitchcock" behauptet, geriet sein privates Vermögen dadurch nie in Gefahr; Hitchcock war ein guter Geschäftsmann und wusste, wie man Risiken minimierte bzw. verteilte. Doch sein Renommee stand in der Tat auf dem Spiel, was Hitchcock durchaus belastete. Rebello spürt den Quellen nach, aus denen der Regisseur seine Kraft schöpfte.
Der Autor stellt außerdem klar, dass "Psycho" auf die Leistung eines Teams zurückgeht – eine Wahrheit, die der von sich eingenommene Hitchcock gern relativierte, um die eigene Rolle herauszustreichen. "Psycho" wird so zum Beleg für das beachtliche kollektive Leistungsniveau, das Hollywood trotz seiner Fehler eben auch auszeichnet.
Deshalb ist es doppelt schade, dass Hitchcock und die Geschichte von Psycho ohne Fotos auskommen muss. Gern hätte man die zum Teil simplen aber genialen Lösungen, mit denen Hitchcock und sein Team großartige Filmbilder erzeugten, im Bild gesehen, obwohl Rebellos Beschreibungen stets mustergültig sind: Selbst der Laie begreift sie problemlos. Wer sich für Filmgeschichte der handfesten Art mehr interessiert als für die Analyse historischer Filme, wird deshalb mit diesem Buch informativ und unterhaltsam zugleich bedient.
Stephen Rebello, Heyne
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