Gefallene Blüten

  • Argument
  • Erschienen: Januar 2013
  • 1
  • Hamburg: Argument, 2013, Seiten: 345, Originalsprache
Gefallene Blüten
Gefallene Blüten
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Matthias Kühn
94°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2013

Pflaumenblüte im Madennest

Shanghai 1926 – eine Metropole, in der es "genauso viele Banditen wie anständige Leute, oder sogar mehr" gibt. Korrupte Politiker, skrupellose Fabrikanten und fiese Bordellbesitzer haben überall ihre Finger im Spiel. Wer gefährlich wird, muss sterben.

Sterben musste auch Liu Er – in den Armen der Kurtisane Pflaumenblüte. Und zwar in einem Madennest, wie Bordelle dort genannt wurden. Die wunderschöne Pflaumenblüte ist die Enkelin der Hauptfigur eines unglaublich lebendigen Romans: Ai Ping bringt ihr Drachenamulett zum Pfandleiher, verlässt mit dem Geld ihr Dorf und macht sich mutig mit der ihr unbekannten Eisenbahn auf den Weg in die Stadt, in der die Straßen so breit sind wie Flüsse. Sie kommt in der Pension "Stiller Bambushain" unter, ist entsetzt über die Zimmerpreise und den Dreck, freundet sich aber mit der Wirtstochter Meiling an.

In Shanghai trifft Ai Ping auf die zweite Hauptfigur, die im krassen Gegensatz zur einfachen, konservativen Ai Ping steht, die an Dämonen glaubt und auch sonst eher archaische Vorstellungen von Leben und Tod hat: Der weltgewandte Lou Mang hat in Paris studiert und sich sein Studium mit einem Job in einer Ziegelfabrik finanziert. So kam er in Kontakt zur Arbeiterbewegung, beteiligte sich an Streiks und wurde zum glühenden Kommunisten, der sich auf eine klassenlose Gesellschaft freut. Sein Problem: Er hat nicht einmal das Geld, um seine Miete zu bezahlen.

Das übernimmt schließlich Ai Ping. Sie engagiert den gebildeten, verschrobenen Herrn als Detektiv, weil sie als alte Frau nicht durch die Bordelle der Stadt ziehen kann, um ihre zur Kurtisane gewandelte Enkelin zu suchen. Nach einer Weile lässt sich Lou darauf ein; weil die Miete bezahlt ist, und weil ihn "dieses Rätsel allmählich interessiert". Nun aber bekommt er wieder ein Problem, besser: zwei Probleme. Nummer eins: Die Suche nach der schönen Enkelin kommt wichtigen Leuten der Green Bang zu Ohren, beispielsweise Großohr Du und Pockennarben-Huang. Nummer zwei: Kommunisten sind in Shanghai noch nicht sehr häufig anzutreffen und zudem wenig beliebt bei den Strippenziehern.

Hier kommt eine historische Tatsache ins Spiel, die diesen Roman außergewöhnlich macht: Shanghai stand 1926 ein großer Umbruch bevor, den zwar Leute wie Lou Mang und seine Mitstreiter wie Mao Zedong und Zhou Enlai kommen sahen, aber sicher nicht in dieser Heftigkeit. Immerhin waren schon 1925 demonstrierende Studenten von britischen Soldaten erschossen worden.

Clementine Skorpil musste, um ein düsteres Zeitgemälde anzufertigen, das in allen Farben leuchtet, nur wenige Personen erfinden; die historisch verbrieften Personen, zu denen auch die Großkopferten der Green Bang zählen, genügten ihr beinahe schon.

Nur ein gutes Jahr später verübte Chiang Kai-shek, der ebenfalls auftaucht, gemeinsam mit der Guomindang ein gewaltiges Massaker unter Kommunisten und Arbeitern: mehr als 5000 Menschen wurden ohne Gerichtsurteile hingerichtet. 1926 aber war Shanghai noch ein Paradies für vergnügungs- und geldorientierte Europäer – und für Kapitalisten wie den ermordeten Liu Er, die so billig wie möglich Textilien produzieren wollten:

 

"Er war der Besitzer einer großen Fabrik?"
"Ja."
"Was für einer Fabrik?"

Schneerose betrachtete die Stickerei auf ihrem weißen Schuh: Ein Eisvogel saß auf einem Kiefernzweig. Opiumschwaden zogen durch den Raum – Gao war bereits mit der nächsten Pfeife zugange. Schneerose wedelte den Rauch mit ihrem Fächer fort. "Er hatte eine Seidenspinnerei in Pudong. Mit vielen Arbeitern und Arbeiterinnen."

"Und Kindern", ergänzte Lou grimmig.
"Ja, vermutlich auch Kindern."

 

Die Mächtigen haben keine Skrupel; wer bei diesen Zeilen an Brände in Bangladesch und an Veronas Lieblingsläden denkt, liegt natürlich nicht ganz falsch. Aber dieser Roman wird nie vordergründig parabelhaft, er zieht nie überdeutlich Parallelen zu unserer Zeit; das machen wir Leser und Leserinnen schon selbst. In einer anderen Szene führt Lou Mang einen Nachbarsjungen, der behauptet, "dass das mit dem Kommunismus Blödsinn" sei, zu einer Fabrik, in der Seide hergestellt wird. Der Junge sieht, wie fünf-, sechsjährige Kinder dazu gezwungen werden, Fäden aus einer kochenden, blutschlierigen Lauge zu fischen und geht kotzen:

 

"Caoan wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. "Warum jagen wir diese Teufel nicht aus dem Land?"
Lou hob die Schultern. "Es gibt noch zu wenige, die kotzen", sagte er.

 

Die Macht in Shanghai hat zu dieser Zeit vor allem die Qibang, genannt Green Bang, mit anderen Worten: die organisierte Kriminalität. Sie beherrscht Politik und Polizei und verdient Geld durch Fabriken, Bordelle und Börse. Großohr Du ist so etwas wie der Pate der Stadt, Pockennarben-Huang, der mit einer Bordellbesitzerin liiert ist, sein Lehrmeister. Durch diese Macht wird das riesige, brodelnde Shanghai zum Dorf, in dem niemand etwas unbemerkt machen kann – nur ist es nicht nachbarliche Kontrolle, wie Ai Ping sie kennt, sondern die pure Diktatur der Reichen.

So verschwindet Lou in den Fängen der Green Bang, Ai Ping sucht sich den nächsten Helfer aus – den pensionierten Kreisbeamten Wei Long, der notgedrungen für die Green Bang tätig ist. Auch der zählt schon bald nicht unbedingt zu den Gewinnern.

In diesem Buch tummeln sich zahlreiche Gestalten, die alle leben und atmen und also echt sind: bescheuerte Ganoven, widerliche Banker, höfliche Japaner, ausgekochte Kurtisanen, opiumsüchtige Kulis – und historisch verbürgte Figuren. Allen voran Mao Zedong: Der wird als "großspurig" beschrieben, als einer, der "einem feucht-fröhlichen Abend im Kreise schöner Frauen sicher nicht abgeneigt" ist. Und als Lyriker wird er so richtig schön lächerlich gemacht. Mao trägt ein Gedicht vor, eine "Ode an den Traktor":

 

"Lou hielt den Kopf während der Lesung gesenkt. Schon als Junge hatte er sich für seinen Bruder geschämt, wenn er vom Lehrer getadelt wurde, weil er seine Zeichen nicht gelernt hatte. Doch kaum war Mao Zedong fertig, sprangen die Genossen von den Sitzen, Hockern und Zeitungsstapeln und applaudierten. Auch Lou stand auf und klatschte, sogar lauter als sein Nachbar. Mao Zedong winkte ab. Endlich verebbte der Applaus. Die Genossen strömten zum Ausgang.
Lou drängte sich an Zhou Enlais Seite. Sie gingen zur Straßenbahn. "Das Gedicht ...", sagte Lou.
"Die Gedichte unseres Genossen Mao haben den bürgerlichen Ästhetizismus vergangener Jahrhunderte überwunden", erklärte Zhou."

 

So wunderbar nebenbei lächerlich gemacht wurde wohl kaum jemand seit Hitler in Wir sind Gefangene von Oskar Maria Graf. Zhou Enlai, übrigens, war später jahrzehntelang Premierminister Chinas.

Aber die historischen Figuren sind nur ein Teil des Vergnügens, den Gefallene Blüten beschert. Dieser grandiose Roman vermittelt das Gefühl, die Autorin hätte vor Ort recherchiert – im Shanghai des Jahres 1926. Geschrieben wurde das Buch aber von einer Österreicherin, Jahrgang 1964, einer Historikerin, Sinologin und Journalistin. Clementine Skorpil kennt die Gepflogenheiten der Zeit ganz genau, die Bräuche, die Gerüche, die Konventionen und Traditionen – und unzählige längst vergessene Begriffe. Sie lässt uns einfühlsam durch dieses vergangene Shanghai ziehen. Und sie erzählt komische, geradezu irrsinnige Episoden rund um erfundene und historische Figuren. So ganz nebenbei spielt auch die Moral eine Rolle. Nicht säuerlich oder mit dem Zeigefinger: Vielleicht ist Gefallene Blüten ein feministischer Roman, ein sozialistischer oder sogar eine gut versteckte Parabel. Was dieser Roman aber in jedem Fall ist: ein verdammt gut recherchierter, perfekt konzipierter und überaus clever strukturierter historischer Kriminalroman.

Gefallene Blüten

Clementine Skorpil, Argument

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