Ich beschütze dich
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2013
- 2
- London: Simon & Schuster, 2011, Titel: 'Tideline', Seiten: 342, Originalsprache
- München: Goldmann, 2013, Seiten: 382, Übersetzt: Eva Kemper
- München: Der Hörverlag, 2012, Seiten: 2, Übersetzt: Dana Geissler & Achim Grauer, Bemerkung: MP3
Der süße Duft junger Haut
Aber seit Kurzem weiß ich, dass Zeit nicht vergeht, sondern alles irgendwie zurückkehrt. So wie der Fluss in Greenwich eine Schleife beschreibt, erscheinen weit zurückliegende Jahre näher als andere, die gerade vergangen sind, und vergessene Augenblicke drängen sich in die Gegenwart.
Als Jez, der 15-jährige Neffe ihrer ehemals besten Freundin Helen, bei Sonia vorbeischaut, entschließt sich die 44-jährige spontan, ihn noch ein bisschen länger zu behalten. Sie betäubt ihn und sperrt ihn im Haus ein. Jez erinnert sie an Seb, ihre einzige Liebe. Nie hat sie jemandem erzählt, was damals mit Seb passierte. Aber als ihr Mann und ihre Tochter zu Besuch kommen und die Polizei nach Jez sucht, wird es immer schwieriger, ihn wieder frei zu lassen. Und eigentlich will Sonia ihn nicht mehr gehen lassen, denn Jez bringt all die schönen Gefühle und die Erinnerungen ihrer Vergangenheit mit Seb zurück. Immer obsessiver "beschützt" Sonia ihren Gefangenen und geht bis zum Äußersten, um ihn nicht zu verlieren.
Der "dunkle Fluss", so der alte Name der Themse, spielt in Penny Hancocks Debütroman eine wichtige Rolle. In atmosphärischen Szenen wird der Fluss zu einem lebendigen Wesen, schicksalhaft und voller dunkler Geheimnisse.
Der ganze Fluss und der Himmel sind erfüllt vom Rauschen und Klagen von Dingen in ständiger gequälter Bewegung. Von Stöhnen und klappern, Knarren und Ächzen, als würde der Fluss selbst Aufmerksamkeit verlangen.
Auch die Protagonistin birgt unter ihrer Oberfläche dunkle Fantasien und Erinnerungen, die durch Jez Anwesenheit an die Oberfläche steigen und immer gewaltiger heranfluten.
Die Geschichte wird überwiegend aus der Ich-Perspektive Sonias erzählt und schon auf den ersten Seiten schleicht sich beim Leser ein unbehagliches Gefühl ein. In Sonias Blick auf Jez schwingt ein sexueller Unterton mit, der bei dem Altersunterschied und der Geschlechterkonstellation gesellschaftlich tabuisiert ist. Wie sehr Sonia gestört ist, wird beim Fortschreiten der Handlung immer deutlicher. Am Ende überschneiden sich Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Fantasie in einem Gänsehaut erzeugenden Finale.
Der Plot weckt Assoziationen an Misery, aber Penny Hancock hat in Interviews versichert, dass sie das Buch vorher nicht kannte. Ihre Hauptfigur unterscheidet sich in vielem von Stephen Kings Protagonistin. Sonia ist kein Monster, sie will ihrem Opfer nicht (willentlich) schaden, sondern sieht ihre Tat als altruistische Handlung. Ihre Verkennung der Realität führt zu grotesken Szenen, die beinah schon wieder witzig sind. Die Sympathie und das Verständnis, das man Sonia am Anfang entgegenbringt, weicht am Ende dem Erschrecken über ihre Amoralität und die Erbarmungslosigkeit, mit der sie ihren Schützling verteidigt. Penny Hancock gibt mit Ich beschütze Dich psychologisch glaubhaft Einblick in eine gestörte Seele. Die zugegeben ungewöhnliche Ausgangssituation entwickelt eine logische Dynamik. Sonias Motivation zu der von Anfang an zum Scheitern verurteilten Tat wird durch die Ereignisse der Vergangenheit nachvollziehbar.
Psychothriller zeigen die Abgründe auf, die hinter der Fassade der Normalität in den Seelen der Mitbürger lauern. Ich beschütze Dich ist dabei keine Ausnahme. Er nimmt sich dabei einer im Genre wenig beachteten Gruppe an: der Frau mittleren Alters. Das erinnert ein wenig an die Heldinnen von Ingrid Noll. Auf einer zweiten Ebene lässt sich der Thriller auch als Ausdruck der Midlife Crisis von Frauen lesen. Die beiden Hauptfiguren des Buches, Sonia und Helen, sind Mitte Vierzig. Die eine fühlt sich als Mutter und Ehefrau unzulänglich und bekämpft ihre Minderwertigkeitsgefühle mit einer Affäre und viel Alkohol. Die andere fühlt sich nicht mehr gebraucht und ist sexuell vom alternden Ehemann abgestoßen. Stattdessen sehnt sie sich nach der Lebendigkeit ihrer Jugend und reaktiviert ihre (wahrlich nicht mütterlichen) Gefühle, indem sie sich in einen Teenager verliebt.
Penny Hancock hat mit Ich beschütze Dich ein bemerkenswertes Debüt geschrieben, in dem sie gleich mehrere Tabus bricht und frischen Wind in die Krimilandschaft bringt. Die Konstellation ist ungewöhnlich, der Plot logisch und spannend konstruiert. Der psychologische Hintergrund ist stimmig und die Charaktere sind realistisch. Der schnelle Einstieg und die lineare Erzählweise schaffen ein zügiges Tempo, das von den in der 3. Person erzählten Passagen mit Helen etwas gedrosselt wird, aber die nötigen Hindernisse für die Handlung schafft. Einzig der Epilog dürfte für viele Leser ein Kritikpunkt sein. Er ist sehr kryptisch geraten, weil er konsequent aus der Sicht der sehr verwirrten Sonia geschildert wird. Wer sich nach der schockierenden Auflösung der beiden Handlungsstränge das Buch ein zweites Mal durchliest, dürfte zu einem eindeutigen Ergebnis kommen.
Penny Hancock, Goldmann
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