Opfer
- Suhrkamp
- Erschienen: Januar 2013
- 11
- London: Serpent's Tail, 2012, Titel: 'Weirdo', Seiten: 407, Originalsprache
- Berlin: Suhrkamp, 2013, Seiten: 384, Übersetzt: Hannes Meyer
Alles halb so wild
2003. Seit fast 20 Jahren sitzt Corrine Woodrow in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt ein. Im Sommer 1984 soll sie einen Menschen mit 16 Messerstichen getötet haben. Man fand sie blutbefleckt und völlig verstört am Tatort. Die genaueren Umstände der Tat konnten nicht rekonstruiert werden. Als einzige Tatverdächtige und aufgrund von Indizien wurde sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Wegen ihres verwirrten Zustandes wurde sie zur Sicherungsverwahrung in die Psychiatrie eingewiesen und dort medikamentös behandelt.
Dass sie eher Opfer als Täterin ist, glaubt die Londoner Rechtsanwältin Janice Mathers. Ihr zweiter Revisionsantrag stützt sich auf neuerliche DNA-Analysen, die beweisen, dass mindestens noch eine weitere Person am Tatort war. Mathers beauftragt den frühverrenteten Polizisten Sean Ward, der sich jetzt als Privatdetektiv verdingt, die Interessen ihrer Klientin wahrzunehmen. Ward begibt sich in das kleine (fiktive) Seebad Ernemouth, wo sich die Tragödie damals abgespielt hatte. Er will noch einmal Zeugen, Freunde, Verwandte und Bekannte befragen, soweit sie noch vor Ort sind. Natürlich hofft er auch auf Einsicht in die Ermittlungsunterlagen und Gespräche mit den damals zuständigen Kripo-Beamten. Eine augenscheinliche Hilfsbereitschaft hindert ihn zu erkennen, dass er hier vorgeführt wird. Viele der ach so netten, redlichen Bürger haben Leichen in ihrem Keller versteckt. Mit Hilfe einer Redakteurin des Lokalblattes gelingt es ihm, das kleinstädtische Beziehungsgeflecht zu durchdringen. Je gründlicher er die Vergangenheit durchstöbert, desto größer, ja lebensbedrohlicher wird der Gegendruck.
Während Sean Ward sich so langsam an das wohlgehütete Geheimnis herantastet, erfährt der Leser in einem zweiten Handlungsstrang, was sich in den Jahren 1983/84 in Ernemouth abspielte. Eine Gruppe post-pubertierender Teenies quält sich durch den öden Alltag. Obwohl es auf den Kaianlagen des Badeortes eine Art Vergnügungspark gibt, ist für die meisten das, für manche noch nicht erlaubte Abhängen in einer vielen Kneipen angesagt. Bis auf einige Ausnahmen sind die Jugendlichen nicht weiter auffällig. In den Vordergrund spielen sich oder werden gespielt eine von Oma und Opa verwöhnte Zicke und ein weiblicher Underdog, deren Mutter auf den Strich geht. Die beiden sind die zentralen Figuren der Geschichte. Um sie scharen sich diverse Jugendliche und Erwachsene, die ihnen gut oder nicht so gut gesinnt sind.
Opfer ist ja schon Anfang März des Jahres erschienen, stand auch nicht auf dem Leseplan des Rezensenten. Er hat sich den Roman aufgrund der vielen positiven Besprechungen auch namhafter Kritiker und der teilweise euphorischen Kommentare einzelner Leser gekauft. "Atmosphäre und Spannung bis zum überraschenden Schluss. Ein Wiederaufleben der wilden 80er Jahre. Hexenkult und Schwarze Magie"- was der Eine mit Begeisterung entdeckt, vermisst der Andere schmerzlich. Für den Rezensenten war Opfer eine einzige Enttäuschung. Da hat er seine Erwartungen wohl zu hoch geschraubt.
Geht man den Roman im Einzelnen durch, muss man ernüchternd feststellen, dass der erste Handlungsstrang, der in der relativen Gegenwart spielt, wenig Neues bietet. Verschworene Dorfgemeinschaften oder Filzokratie in kleineren oder größeren Städten ist ein beliebtes Thema in der Kriminalliteratur, weil es ein Spiegelbild der Wirklichkeit ist. Hunderte Autoren in Amerika, Skandinavien, Großbritannien und Deutschland haben sich an diesem Thema schon abgearbeitet und Cathi Unsworth kann es grundsätzlich nicht bereichern. So fördern Sean Wards Auf- und Entdeckungen wenig Spektakuläres zutage. Wer zu den "Bösen" zu rechnen ist und wer von dem Komplott profitiert, zeichnet sich schon früh ab. Ebenso wenig rätseln muss man über die Frage, ob Corrine Woodrow nun schuldig oder unschuldig ist. Als guten Einfall könnte man noch werten, dass die Autorin die Identität des Opfers bis kurz vor Schluss verheimlicht, wenn es denn eine Bedeutung gehabt hätte. Einen besonderen Nervenkitzel kann man in diesem Handlungsstrang nicht finden.
Waren die 1980er Jahre tatsächlich so "wild", wie sie in der Rückschau apostrophiert wurden? Eine Frage, die hier nicht diskutiert werden soll. So, wie die Autorin die kleinstädtische Jugend der Zeit beschreibt, ist sie von erstaunlicher Normalität. Das Rebellentum einiger ist mehr Attitüde, als dass es Überzeugung ausdrückt. "Die schwarzen, zerzausten Kindchen, welche sich mit Hühnerknochenketten behängten und für die Wiederveröffentlichung alter Gewitterhexenbücher sorgten." - lästerte ein Herr Niemczyk damals in der Zeitschrift SPEX (1986). Die frühen 1980er Jahre waren die Zeit des Postpunk und des Aufkommens der Gothic Subkultur, an der sich die beiden Hauptprotagonistinnen in Aussehen und Outfit orientieren, ohne dass die Autorin näher auf die Hintergründe eingeht. Für eine okkulte Kulisse sorgt wenigstens ein junger Aleister-Crowley-Verschnitt, sehr sympathisch im übrigen, obwohl man da kaum von Hexenkult und Schwarzer Magie sprechen kann. Die verzweifelte Corrine glaubt ein bisschen dran und die Yellow Press wird ihr ob dieses bescheidenen Glaubens nach der Tat einen Scheiterhaufen errichten.
Es verwundert ein bisschen, dass Cathi Unsworth, immerhin ehemalige Kritikerin und Redakteurin bei diversen Musikzeitschriften, wahrscheinlich genau in den 1980er Jahren, fast gänzlich auf Musikzitate verzichtet. Da plärren mal Michael Jackson, Madonna und Paul Young aus dem Radio; ein Typ macht ein wenig mit Platten rum und ganz entfernt treten ein paar Punk-Bands auf. Ansonsten geht es ziemlich musiklos zu, eigentlich untypisch für jede Jugend.
Mit mehreren Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen zu arbeiten, ist bei Krimi-Autoren ziemlich populär geworden. Kaum einer schreibt noch eine durchgängig erzählte Geschichte. Die ständigen Perspektivwechsel sollen und können für Abwechslung und Spannung (Cliffhanger) sorgen. Fatal ist es nur, wenn ein Handlungsstrang deutlich schwächer ist als der/die andere(n), was in diesem Roman der Fall ist. Die Ermittlungsarbeit von Sean Ward ruft dem erfahrenen Leser nur ein müdes Gähnen hervor. Man ist geneigt, diese Abschnitte möglichst schnell hinter sich zu bringen, denn die Vergangenheitsgeschichte ist wenigstens emotional anrührend. Letztendlich ist der Roman nicht die Offenbarung, als die er von einigen gesehen wird.
Cathi Unsworth, Suhrkamp
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