Versteckt

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2013
  • 3
  • New York: Ballantine, 1984, Titel: 'Hide and seek', Originalsprache
  • München: Heyne, 2013, Seiten: 272, Übersetzt: Kristof Kurz
Versteckt
Versteckt
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Michael Drewniok
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2013

Braver Junge, böses Mädchen – und Monster!

Dead River ist ein Städtchen an der Ostküste des US-Staates Maine. Die Einwohner sind Fischer oder arbeiten in der Holzindustrie. Da diese Wirtschaft am Boden liegt, bringen vor allem Touristen aus großen Städten wie Boston Geld in den Ort. Man braucht sie, aber man liebt sie nicht, denn die Einheimischen neiden ihnen den zur Schau gestellten Wohlstand.

Dan Thomas geht nicht ins College, sondern verdingt sich als Arbeiter in einer Sägemühle. Er sieht ein elendes, chancenloses Leben vor sich, ist jedoch zu träge, sich aus seinem Trott zu befreien. Für neuen Schwung sorgt erst Casey White, die mit ihren Freunden Steven und Kimberley den Sommerurlaub in Dead River verbringt. Die drei jungen Leute aus der Stadt langweilen sich. Mit Ladendiebstählen und Nacktbaden wollen sie dem abhelfen.

Casey verliebt sich in Dan, was dieser nach Kräften erwidert, obwohl er bald recht dunkle Seiten an seiner Freundin entdeckt. Sie geht gern Risiken ein und ignoriert mögliche Konsequenzen. Eine mehrfach unglückliche Familiengeschichte hat Casey aus der Bahn geworfen. Den rasch hörigen Dan bringt sie in Schwierigkeiten, von denen der drohende Arbeitsplatzverlust noch die geringste ist.

Deshalb ist Dan froh, als Casey ein scheinbar harmloses Freizeitspiel vorschlägt: Die Freunde sollen eine Nacht im alten Crouch-Haus verbringen. Vor Jahren haben dort die verrückten Geschwister Ben und Mary mit unzähligen Hunden gehaust. Eines Tages verschwanden sie und ließen ihre Haustiere verhungernd zurück. Zu spät wurde man in Dead River auf die Tragödie aufmerksam. Seitdem gilt das Gebäude als Spukhaus.

Der nächtliche Einbruch in das Crouch-Haus gelingt. Bald beschleicht die vier Freunde jedoch das ungute Gefühl, nicht allein in der Dunkelheit zu sein. Vor allem Dan erinnert sich viel zu gut an Gruselgeschichten, nach denen Ben und Mary nicht verschwunden sind, sondern sich nur versteckt haben und auf unvorsichtige Besucher warten …

Weder Fisch noch Fleisch

Normalerweise würde die Lektüre von Versteckt die Leser ratlos zurücklassen: Was sollte das jetzt? Sie haben einen Roman gelesen, der zwar ausgezeichnet geschrieben ist, jedoch inhaltlich in zwei völlig konträre Handlungen zerfällt. Teil 1 erzählt eine typische "Coming-of-Age"-Geschichte: Junge verliebt sich in Mädchen, wobei sie psychisch labil und er kriminalhistorisch vorbelastet ist. Daraus entwickeln sich diverse Schwierigkeiten, die in einer Tragödie münden. Literatur, Theater oder Film sind reich an entsprechenden Finalen.

Wobei diese Tragödie freilich mit der Vorgeschichte rein gar nichts zu tun hat. Nicht der Sheriff oder andere Gesetzeshüter setzen den Schlusspunkt unter die Geschichte von Dan und Casey. So hätte man es erwartet, so hatte Autor Jack Ketchum selbst bereits ähnliche Jugenddramen eskalieren lassen. Dieses Mal zeigt er der Logik den Mittelfinger. Plötzlich wird aus einer realistischen Geschichte ein Horror-Garn.

Als sich die Tür des Crouch-Hauses hinter den Figuren schließt, endet auch die einfühlsame Vorgeschichte, 150 Seiten Handlung lösen sich mehr oder weniger in Luft auf. Zwar wird die die große Liebe zwischen Dan und Casey noch mehrfach beschworen, doch das wirkt wie eine Pflichtübung. In den Vordergrund rückt der Überlebenskampf im Tunnelsystem unter dem Crouch-Haus. Dort haben sich die Vorbesitzer häuslich eingerichtet und dabei ihre Menschlichkeit vollständig eingebüßt.

Die Krise als Neustart

Ist dies ein Spoiler? Wohl kaum, denn keinen Leser wird dieser zweite Handlungsabschnitt überraschen. Viel zu aufdringlich hat Ketchum die Dorf-Mär von den verrückten Crouches einfließen lassen. Selbstverständlich müssen deshalb sie hinter (bzw. unter) den Mysterien ihres Hauses stecken. Immerhin gelingt Ketchum eine unerwartete Zugabe, die den genreüblichen Finalkampf zwischen Mensch und Monster bereichert.

Was ihn dazu trieb, zumindest den ersten Akt als Drama zu gestalten, legt Ketchum in einem Nachwort offen, das er zur US-Neuauflage seines Romans im Jahre 2007 schrieb. "Casey" ist einer realen Frau namens "Jen" nachgezeichnet, die Ketchum als Student kennenlernte und mit der er eine Weile zusammenlebte. Sie war ein Junkie und jagte dem jungen, unerfahrenen Jack durch die rauschgiftbedingte Irrationalität große Angst ein. Der spätere Schriftsteller sah Jen zudem als Schatten einer düsteren Zukunft, in die auch Jack hätte abrutschen können. Tatsächlich hatte er die Notbremse ziehen und sich von Jen lösen können – eine Erfahrung, die er in Hide and seek verarbeitete.

Worum sich Ketchum in besagtem Nachwort drückt, ist eine Erklärung für jene unkonventionelle Auflösung, die er der Nacherzählung gibt. Offensichtlich traute er der Dynamik einer Geschichte nicht, die in einer – wenn auch existenziellen – Entscheidung gipfelt. Ohne die Nacht im Crouch-Haus hätte Dan vor der gleichen Frage wie Jack gestanden: Soll ich meiner zunehmend gefährlicher werdenden Liebe folgen oder zu meinen Gunsten aussteigen?

Auf Monster kann man zählen

Stattdessen flüchtete sich Ketchum in die Routine. 1984 war Versteckt erst sein zweiter Roman. Eine unspektakuläre Auflösung glaubte er sich deshalb wohl nicht gestatten zu können. Also begab er sich auf sicheres Terrain. Off Season (dt. Beutezeit), sein Romandebüt von 1980, hatte Ketchum wegen der Schöpfung kannibalisch degenerierter Hinterwäldler leidlich berühmt (sowie berüchtigt) gemacht. Also ließ er sie auch in Versteckt ihr Unwesen treiben.

Hier wirken sie allerdings wie ein "deus ex machina". (Oder sollte man besser vom "diabolus ex machina" sprechen?) Ben und Mary werden in der Story nur lose verankert. Es hilft wenig, dass Ketchum zumindest Ben unerwartet menschliche Züge verleiht. Diese aufgesetzte Last-Minute-Tragik bleibt reiner Effekt.

In einem Epilog versucht Ketchum die Wende zur einführenden "Restless-Youth"-Drama. Da hat man nach dem blutigen Gemetzel den Kontakt zu Dan und Casey allerdings verloren. Weiterhin zeigt sich Ketchum als Meister des einfachen aber eindringlichen Wortes (was die Übersetzung zu bewahren weiß), doch die erwünschte Wirkung will sich nicht einstellen. Vielleicht haben seit 1984 zu viele Epigonen die Story von Romeo & Julia im Hinterwald bemüht. Was ursprünglich originell war, ist zum Klischee verkommen. Familiärer Missbrauch hat es längst ins TV-Vorabendprogramm geschafft. Selbst Sex auf dem Friedhof schreckt keine Zensoren-Hunde mehr auf. Und vor bissigen Hinterwäldlern fürchtet man sich nicht mehr, seit sie sich in immer neuen, immer lächerlicheren "Wrong-Turn"-Filmen zu Narren machen.

Der ältere Dan Thomas wirkt nicht wie durch Erfahrung gereift. Er klingt wie John-Boy Walton, der in der TV-Serie gleichen Namens einen Nachwuchs-Schriftsteller spielt und auf sein Leben zurückblickt. John-Boy blieb seinem Kitsch immerhin treu. Ketchum hatte diesen Mut nicht. Versteckt ist kein "gutes" Buch. 1984 blieb es praktisch unbemerkt. Glücklicherweise ist es keineswegs langweilig. Ketchum KANN schreiben – Drama wie Horror. In späteren Werken lernte er beides überzeugend, mit nachdrücklicher Wirkung und trotzdem spannend zu kombinieren.

Versteckt

Jack Ketchum, Heyne

Versteckt

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