Leichendieb
- Tropen
- Erschienen: Januar 2013
- 1
- Rio de Janeiro: Rocco, 2010, Titel: 'Ladrão de Cadáveres', Originalsprache
- Stuttgart: Tropen, 2013, Seiten: 200, Übersetzt: Barbara Mesquita
Koks, Tränen und große Gefühle
Ein Call-Center-Manager ohrfeigt in einem unbedachten Moment eine Mitarbeiterin – die sich kurz darauf das Leben nimmt. Ihm wird die Schuld dafür gegeben, er wird entlassen, und zieht frustriert zu einem Cousin in die Provinz . Um sich zu zerstreuen, geht er gerne zum Angeln – und sieht bei dieser Gelegenheit ein kleines Flugzeug abstürzen. Dem jungen Piloten ist nicht mehr zu helfen, und nach kurzem Zögern raubt der Ex-Manager - seinen Namen erfährt der Leser während der kompletten Geschichte nicht - den Sterbenden aus. Er nimmt dessen Rucksack mit Papieren, die Uhr des Piloten, und einen Rucksack, der unter anderem einen Ziegel Kokain enthält. Aus dem Rauschgift will er Profit machen, und so lässt er sich mit Kriminellen aus dem Nachbarland Bolivien ein. Um zu kaschieren, dass er plötzlich über mehr Geld verfügt, nimmt er einen Job als Chauffeur an – ausgerechnet bei der Familie des toten Piloten. Seine Freundin, einst bei der Polizei beschäftigt, jetzt Leiterin des Leichenschauhauses der Stadt, weiht er zunächst nicht ein. Schrittweise führt ihn seine kriminelle Karriere jedoch in immer stärkere Widersprüche – bis es schier ausweglos wird.
Patricia Melo präsentiert dem Leser in ihrem neuen Roman Leichendieb eine äußerst zwiespältige Figur. Den Namen des Protagonisten verschweigt die Autorin, deshalb will ich ihn hier den "Ex-Manager" nennen. Zwar wird er von den bolivianischen Drogenlieferanten alsbald Porco genannt, aber das erscheint mir eher unangemessen – schließlich wollen sie ihn mit diesem Spitznamen nur demütigen. Wie der Ex-Manager in seine "Verbrecherkarriere" hineingerät, ist schon bemerkenswert. Er sitzt beim Angeln, als vor seinen Augen in einer entlegenen Ecke Brasiliens ein Kleinflugzeug in den Fluss stürzt. Als er dann neben dem sterbenden Piloten kniet entscheidet sich in einer Sekunde der weitere Verlauf seines Lebens. Denn alles was danach kommt, ist im Grunde die Folge des Griffs nach dem Rucksack des jungen Mannes. Er biegt einmal falsch ab – und das wiederholt sich in der Folgezeit immer wieder.
Der Ex-Manager hat übrigens eine prägnante Marotte. Aus seiner Zeit im Callcenter ist eine sprachliche Angewohnheit zurück geblieben. Damals hat er die Mitarbeiter per Funk koordiniert, und auch jetzt noch beendet er – als Ich-Erzähler des Romans – hin und wieder Sätze mit "Over". Die Häufigkeit variiert, unter Stress kommt das "Over" in kürzeren Abständen. Das Wort ist gewissermaßen ein Pegel seines Gemütszustandes. Und der wird nicht besser, seit er sich mit den Narcotraficantes aus dem Nachbarland eingelassen hat. Aber auch sein Privatleben sorgt für emotionalen und sonstigen Stress beim Ex-Manager. Er lässt sich mit der Freundin seines Cousins ein, obwohl er mit seiner eigenen Freundin konkrete Zukunftspläne hat. Irgendwie betrügt er beide Frauen mit der jeweils anderen, und die Verwicklungen führen auch dazu, dass sich seinen kriminelle Karriere immer schneller entwickelt.
Ein echter Coup der Erzählerin ist, dass sie den Ex-Manager als Chauffeur bei der Familie des toten Piloten landen lässt. Weil er Mitleid mit der Mutter des Toten hat, wird die Sache schließlich noch komplizierter. Patricia Melo zeigt hier viele denkbare Facetten menschlicher Empfindungen. Sie zeigt aber auch, zu wie viel Selbstverleugnung der Mensch fähig ist. Es geht um Liebe und Eifersucht, Besitzstreben, Gier, Skrupel und Familiensinn. Der Ex-Manager ist im Grunde nur ein Tagträumer, aber durch seine falschen Entscheidungen, die zuweilen von Opportunismus geprägt sind, wird es zum Verbrecher. Er zieht schließlich seine unbescholtene Freundin mit hinein, und redet sich und ihr das kriminelle Vorgehen auch noch schön.
Der Mann ist zutiefst verunsichert, seine Lebensperspektive ist mal unklar, mal durchaus hellsichtig. Stets lebt er in der Hoffnung, mit dem nächsten Schritt wieder Fuß zu fassen – um sich nur noch tiefer in die Probleme hinein zu reiten. Patrícia Melo zeigt sich hier als hervorregende Erzählerin, sie versteht es von Beginn an, den Leser mit ihrer faszinierenden Geschichte zu fesseln. Ein ungewöhnlicher Kriminalroman, der zwischen Schelmengeschichte und ernstem Geschehen hin und her schwankt. Am Ende fühlt man sich hervorragend unterhalten, und freut sich auf das nächste Buch dieser bemerkenswerten Autorin.
Patrícia Melo, Tropen
Deine Meinung zu »Leichendieb«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!