Bitterkalt

  • Festa
  • Erschienen: Januar 2013
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  • New York: St. Martin´s Minotaur, 2002, Titel: 'Hard freeze', Seiten: 296, Originalsprache
  • Leipzig: Festa, 2013, Seiten: 336, Übersetzt: Manfred Sanders
Bitterkalt
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2012

Kur(t)zer Prozess mit Lumpen & Heuchlern

Gerade hat Ex-Privatdetektiv und Ex-Sträfling Joe Kurtz diverse Mordattacken der Mafia-Familie Farino abgewehrt, da sitzen ihm schon wieder Killer im Nacken. Glücklicherweise sind es ´nur´ die "Drei Stooges" – zwar brutale aber strohdumme Kerle, die Kurtz leicht ausschalten und befragen kann, bevor er sich ihrer entledigt.

Kurtz hat sich zu früh gefreut: Zwar ist Sophia Farino, die sich an die Spitze ihres Clans setzen wollte, nicht ohne seine Mitwirkung verstorben, während Bruder Stephen, genannt "Little Skag", weiterhin im Gefängnis sitzt. Doch aus Italien ist Schwester Angelina Farino in ihre Heimatstadt Buffalo, US-Staat New York, zurückgekehrt. Offiziell soll sie Little Skag vertreten, bis dieser wieder frei ist.

Tatsächlich giert auch Angelina nach der Macht. Die "Stooges" hatte sie Kurtz im Auftrag des Bruders auf den Hals gehetzt. Tatsächlich plant sie Kurtz in ihre Intrige einzubauen: Angelina will den mafiösen Konkurrenz-Clan der Gonzagos ausschalten, dessen Oberhaupt Emilio sie auch persönlich hasst. Als sie ihm eröffnet, dass Emilio einst den Mord an seiner damaligen Detektiv- und Lebenspartnerin Samantha befohlen hatte, kann Angelina Kurtz auf ihre Seite ziehen.

Der hat inzwischen ein weiteres Problem. Musiker John Frears hat zufällig den seit Jahren flüchtigen Mörder seiner Tochter entdeckt. Dieser nennt sich jetzt Robert Millworth, ist verheiratet – und Leiter der Mordkommission von Buffalo! Wider besseres Wissen will Kurtz Frears helfen. Seine vorsichtigen Ermittlungen ergeben, dass ´Millworth´ in der Tat ein hochintelligenter Psychopath ist, der zudem seine Position ausnutzt, um weiter zu morden.

Schnell findet Millworth heraus, dass man bzw. wer ihm auf die Schliche gekommen ist. Es trifft sich gut, dass seine Untergebenen Brubaker und Myers korrupt und skrupellos genug sind, sich als Killer instrumentalisieren zu lassen. Zu allem Überfluss schickt Emilio Gonzago seinen Vollstrecker Mickey Kee aus, der ihm Kurtz´ Kopf bringen soll – buchstäblich …

Irrwitz als Normalzustand

Die Rückkehr des Joe Kurtz ließ nur ein Jahr auf sich warten. Angesichts des ebenso turbulenten wie komplexen Tohuwabohus, das Dan Simmons in Hardcase (2001; Eiskalt erwischt) entfesselt hatte, hätten andere Autoren vermutlich erst einmal Abstand von einer Fortsetzung genommen. Was konnte denn noch kommen nachdem Kurtz die kriminelle Szene von Buffalo gründlichst und samt Bodensatz aufgerührt hatte.

In der Tat tauscht Simmons zwar die meisten Figuren aus, behält aber die Handlungsstruktur bei. Erneut gerät Joe Kurtz auf mehreren Ereignisebenen gleichzeitig in die Klemme. Geschickt greift Simmons dabei lose Enden auf. So tritt erneut der Mafia-Clan der Farinos in Erscheinung. Hier war mindestens eine Rechnung offengeblieben, die Kurtz´ Erzfeind "Little Skag" endlich beglichen sehen will. Zwar sitzt er im Gefängnis, doch das ist in Simmons´ Kosmos, der hauptsächlich von Kriminellen, ihren Opfern und Dummköpfen bevölkert wird, ein Ort, dessen Hüter die Insassen höchstens daran hindern, über die Mauern zu steigen. Kriminelle Geschäfte können dort ungehindert weitergeführt werden.

Ähnlich zwielichtig geht es auch ´draußen´ zu. Deshalb ist es zwar eine brillante Idee aber keine Überraschung, dass Simmons einen Serienkiller zum Chef der Mordkommission macht: Das ausgehöhlte System von Recht und Ordnung kann an jeder Stelle infiltriert werden. Dank seiner Intelligenz und seiner psychopathisch bedingten Disziplin ist Captain Millworth sogar ein ausgezeichneter Polizist mit ausgeprägten Führungsqualitäten. Politik und Medien lieben ihn, denn er liefert Resultate und Schlagzeilen. Vermutlich trauern sie ihm heimlich hinterher, nachdem ihn Kurtz erwischt hat: Moralisch klafft zwischen Volksvertretern und Verbrechern kein breiter Abgrund mehr.

Der richtige Mann an einem bösen Ort

Viele Kriminalromane erzählen vom ehrenwerten Mann, der allein gegen das verderbte Establishment und das organisierte Verbrechen aufsteht. Dabei muss er beruflich wie privat mächtig einstecken und Opfer bringen, bis endlich das Gute triumphiert. Manchmal bleibt er sogar auf der Strecke, was ihn zum tragischen Märtyrer erhebt. Darüber schwebt unsichtbar der Grundsatz, sich keinesfalls, nicht, niemals auf das Niveau des Gegners herabzulassen und Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Zwar weichten bereits "Hardboiled"-Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler vor allem in ihren frühen Storys diese plakative Redlichkeit auf, doch hat sich das Sprichwort "Verbrechen lohnt nicht" dennoch so tief ins kollektive Gedächtnis gegraben, dass man es auch heute noch gern verwirklicht sieht.

Dan Simmons ist kein Anhänger solcher Hirngespinste. In Flashback offenbarte er 2011 unverblümt, dass er es für wenig hilfreich sowie für ein Zeichen von Schwäche hält, dem Gegner auch die andere Wange hinzuhalten. Joe Kurtz vergilt jedenfalls Gleiches mit Gleichem plus Sicherheitsreserve; dies nicht emotional oder gar hasserfüllt, sondern kaltblütig, weil es die effektivere Lösung ist.

Offen lässt Simmons dabei die Frage, ob Kurtz ebenfalls ein Psychopath ist oder er vor allem den Ruf pflegt. So schlägt sich Farino-Killer Marco vor allem deshalb zuverlässig auf seine Seite, weil er schlicht Angst vor Kurtz hat, der ihm zuvor mehrfach bewiesen hat, dass er kurzen Prozess macht, wo man sich ihm in den Weg stellt. So kidnappte er kurzerhand den versoffenen, geilen Stiefvater seiner möglichen Tochter, um ihn als Köder den Killer-Wölfen zum Fraß vorzuwerfen: Das System hatte die Notsignale der Tochter ignoriert. Kurtz sorgt dafür, dass sich daraus kein tragischer ´Behördenfehler´ entwickeln kann.

Heimlich dem Killer die Daumen drücken

Auch wenn er nur die Schurken killt, müsste der politisch korrekte Leser Joe Kurtz eigentlich hassen. An diesem Punkt wird Simmons ein wenig zynisch: Er weiß genau, dass er Kurtz dort wüten lässt, wo sich ihm der Leser zumindest heimlich anschließen möchte. Zumindest in der Fiktion kann Gewalt eine Lösung sein, wodurch das von Alltagsfrustration überdruckgeplagte Leserhirn – realiter geht es viel zu vielen Strolchen ungerecht gut – ein wenig entlüftet wird.

Mitleid ist dagegen eine rare Erscheinung in Simmons´ Buffalo – glücklicherweise, denn wo sie auftritt, kommt sie recht rührselig daher. Kurtz Ringen mit dem Wissen um seine mögliche Vaterschaft, die weiter enthüllte Vorgeschichte des Mülltonnen-Diogenes Pruno (alias Ex-Universitätsdozent und Philosoph Dr. Frederick) oder die traurige Geschichte des Violinisten John Frears, der vor dem anstehenden Krebstod Gerechtigkeit für seine ermordete Tochter fordert: Simmons ist ein wenig zu erfolgreich in der Kreation einer kalten, irren Welt, weshalb solche Einschübe Klischees bleiben, deren vordergründiger Sinn sich darin erschöpft, dem Eisenfresser Kurtz doch eine menschliche Seite zu geben.

Kurtz´ Widersacher Millworth wirkt glaubhafter. Simmons schildert ihn keinesfalls als simple Mordmaschine. Millworth sieht sich als Übermensch, für den die Vorschriften des Pöbels nicht gelten. Er mutiert final nicht zum schäumenden Irren, und er ist kein Supermann. Klug gezeichnete Schwächen lassen Kurtz die Chance, sich mit Millworth anzulegen, ohne dass es lächerlich wird: In der Realität dürfte sich der Chef einer großstädtischen Mordkommission für einen einsamen Rächer als allzu harte Nuss erweisen. Wenn es Millworth schließlich erwischt, erlebt auch der Leser eine Überraschung, denn es ist nicht Kurtz, der ihn tötet.

Kurtzweilig in die nächste Runde

Für das Finale hat Simmons mit dem Buffalo Central Terminal – den 1929 im Art-Deco-Stil errichten Zentralbahnhof der Stadt – einen klassischen Schauplatz gefunden: Seit 1986 stand das gewaltige Gebäude leer; erst seit 2003 wird es Stück für Stück saniert. In seinem malerisch verfallenden Inneren liefert sich Kurtz mit allen Gegnern ein simultanes Final-Duell über mehrere Ebenen. Der ohnehin wie ein Uhrwerk laufende Handlungsmotor schaltet einen weiteren Gang höher. Was kaum möglich scheint, gelingt: Das Tempo nimmt noch einmal zu.

Hinzu kommen überraschenden Wendungen, die Simmons meisterlich beherrscht. Wenn Routine sich einzuschleichen droht, reißt er das Steuer herum und wirft das Geschehen in eine gänzlich unerwartete Richtung. Solche Schwenker ereignen sich nicht einfach; sie werden vom Verfasser plausibel vorbereitet. Das Wetter, der Zufall, die Tücke des Objekts sind Elemente eines Spiels, das auch Joe Kurtz nicht bis ins Detail bestimmen kann. Die daraus resultierenden Unsicherheiten sorgen für Zwischenfälle, die Kurtz improvisieren lassen, woraufhin der unterhaltsamen Eskalation ein breites Tor geöffnet wird.

So wird es weitergehen: Ein letztes Mal kehrt Kurtz zurück, denn Dan Simmons ist klug genug, sein Spiel nicht zu überreizen. Für Kalt wie Stahl hat er wieder einige Enden verheißungsvoll lose gelassen, und mit Sicherheit wird es ihm gelingen, die Palette grotesk überzeichneter Kapitalverbrechen um weitere denkwürdige Exemplare zu erweitern.

Bitterkalt

Dan Simmons, Festa

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