Grenzfall

  • Argument
  • Erschienen: Januar 2012
  • 9
  • Hamburg: Argument, 2012, Seiten: 347, Originalsprache
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Lars Schafft
88°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2012

Ein Glücksfall

Ist er das, der große Wurf fürs Krimijahr 2012? Ja! Merle Krögers dritter Roman Grenzfall, eine Geschichte über Roma, die kurz nach der Wende ihr Glück im Westen suchten und den Tod fanden, überragt die Produktion deutscher Spannungsliteratur der letzten zwölf Monate deutlich.

Vorweg: Das knapp 350 Seiten starke Buch ist keine leichte Lektüre, was an vielen unterschiedlichen Erzählperspektiven an unterschiedlichsten Orten quer durch Europa und Zeiten über eine Spanne von zwanzig Jahren liegt. Krögers Protagonisten, die junge Mattie Junghans und Nick Ostrowitz, recht erfolgreicher Investigativjournalist, treten zudem erst nach einem guten Fünftel in Erscheinung. Weiterhin können fortgeschrittene Geographie-Kenntnisse nicht schaden, um in Grenzfall nicht die Orientierung zu verlieren (die Autorin verwendet, um die ganze Sache etwas kompliziert zu machen, Städtenamen in Landessprache, also Praha statt Prag oder București statt Bukarest).

Der eigentliche Plot, der sich nach und nach herauskristallisiert, muss in kurzen Sätzen zusammengefasst werden. 1992, kurz nach der Wende, versuchen Menschen aus Osteuropa Clan-weise die Flucht ins wiedervereinigte Deutschland. Kein ungefährliches Unterfangen, Grenze nach Grenze wird dichter und mit High-Tech abgesichert. Merle Kröger erzählt von zwei Roma, die nur in der Flucht von Rumänien über Polen in die BRD eine Möglichkeit sehen, ihre Familien zu ernähren.

Das Flüchtlingsdrama findet im nächtlichen Nordosten Deutschland seinen traurigen Höhepunkt. Zwei Männer werden erschossen, weil sie von Jägern irrtümlich für Wild gehalten worden sind. Das Feld, in dem die beiden ums Leben kamen, brennt ab, die verkohlten Leichen werden zur Beerdigung zurück über die Karpaten geschickt und übrig bleiben ein Fall, der niemals aufgeklärt wurde und die Söhne und Töchter der Erschossenen, die unverhohlene Ausländerfeindlichkeit und Asylantenheime in Flammen miterleben müssen. Zwanzig Jahre später rollt Mattie Junghans, mittlerweile Mitarbeiterin in einer Berliner Kanzlei, den Fall neu auf. Und stößt über alle Grenzen hinweg auf Menschen, die aussichtslos ein trauriges Dasein fristen, ihren Stolz aber nie ganz aufgegeben haben.

Die Autorin selbst schreibt im Nachwort: "Der Kriminalroman gibt die Chance, emotionale und politische Momente zu verdichten und die Realität in einen Möglichkeitsraum umzudenken." Im Gegensatz zum restlichen Text klingt das zwar ein wenig gestelzt, ist aber genau der Grund, warum sich Grenzfall so deutlich von anderen Krimis abhebt. Denn Merle Kröger schreibt nicht nur eine Geschichte, die auf realen Vorkommnissen beruht (sie hat darüber einen Dokumentarfilm produziert), sondern verdeutlicht durch die Wahl des Genres um so mehr, welche menschlichen Tragödien sich an bundesdeutschen Grenzen Nacht für Nacht abspielen und vor allem, in welcher Notlage die Menschen stehen, von denen man weder sieht noch hört, bis es zu einer Tragödie kommt.

Grenzfall ist ein Roman, der viel Licht in ein großes Dunkel bringt, ohne dabei zu stark zu moralisieren. Und sich jeder Schublade widersetzt. Roadmovie, Polit-Thriller, Abenteuer? Nein, der Mantel des Kriminalromans passt letztendlich doch ganz gut. Und für den ist Merle Krögers Buch ein Glücksfall.

Grenzfall

Merle Kröger, Argument

Grenzfall

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