Fleischwölfe - 0
- Evolver
- Erschienen: Januar 2012
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- Wien: Evolver, 2012, Seiten: 200, Originalsprache
Nackt und zerfleischt
Fleischwölfe ist der "Roman" zu einem Film, der von einer Crew im Buch gedreht wird. Ist eigentlich ganz einfach: Fleischwölfe ist kein Roman zu einem Film, den es nicht gibt. Sondern eine szenische Abfolge, bestehend aus Interviewpassagen, in denen der Interviewer aber nie eingreift, von einer Ausnahme abgesehen, und einer filmischen Deskription – mit "Audiokommentar".
Rohm lässt Menschen vor eine fiktive Kamera treten, sie plappern drauflos, veranschaulichen ihren Beitrag zu den zu den kannibalistischen Umtrieben der Familie Stern. Draußen in der Wüste, wo eine Wagenpanne das letzte Missgeschick eines Lebens sein könnte. Vorm letzten Dahinvegetieren als potenzielles Nahrungsmittel. Rohm lässt Täter, Opfer, Angehörige, einen Polizisten und Zeugen auftreten. Sie alle haben etwas zu erzählen über die abscheulichen Taten der Familie Stern, sind involviert, entsetzt, trauernd oder höchst interessiert gaffende und erläuternde Voyeure.
"Man ist ja kein Unmensch" ist ein zentraler Satz des knapp hundertseitigen Werks, das Bertolt Brecht ebenso kennt wie Michael Haneke und Wes Craven. Menschen verschwinden in der Wüste, ob es tatsächlich jenen Atomschlag gegeben hat, den Vater und Oberschlächter Stern beschwört, bleibt im Vagen. Mit Hilfe eines einäugigen Ex-Polizisten werden Wagenladungen von Männern, Frauen, Kindern auf die abgelegene Farm der Sterns entführt, dort erst gefangen gehalten, später zerteilt, dann gekocht, gebraten und gegessen. Ein Kind wird als Haustier gehalten, der junge Finn Stern erzählt in artifizieller Kindersprache gleich zu Beginn davon. Ihm fehlt jede Einsicht in sein Tun wie ihm Vorsilben fehlen, ganze Wörter. Sprache verniedlicht, verharmlost, ist der Filter, der die scheinbare Authentizität bewahren soll, doch wird wie der Film Fleischwölfe zur Lüge. Die die Wahrheit erzählt. Doch welche ist es? Die der Sterns, des Ehepaars, das den Tod der Tochter betrauert und sich um den Enkel sorgt, der als "Hofhund" gehalten wird und mit dem Fleisch seiner Eltern gefüttert wurde, oder jene Stimme aus dem Grab, der gliederlose Korpus, der immer noch erstaunt ist über die Absurdität und Gewalttätigkeit des eigenen Ablebens. Sie alle werden zu den Rädchen einer Medienmaschinerie, bevor sie sich verflüchtigen und etwas anderes ihren Platz übernimmt.
Der Mensch ist kein Unmensch. Er schaut halt nur gerne zu, wenn "kranke Feaks" zu Unmenschen werden. Auf den Kopf drehen und umschalten.
0 [Null]. Eine Noirvelle. Otto Seuse irrt – wie sein Namenspatron Odysseus - durch die Welt. Dem Nullpunkt entgegen. Dorthin, wo Existenzen verlöschen, in der Oase, oder Fata Morgana, der verschwundenen Frauen. Dort leben Sonja und Susie. "SS". Die blasse, magere, unscheinbare Susie, die so gerne gefunden werden möchte, doch beim Versteckspiel jedes Mal von ihren Mitspielern (bewusst) übersehen wird. Die im Schatten aufwächst und später von einem herrschsüchtigen und gewalttätigen Ehemann immer tiefer in die fremdbestimmte Unscheinbarkeit getrieben wird. Deren Sohn Jochen motivationslos in den Tag hinein lebt, und den seine Mutter keinen Deut interessiert.
Susie verblasst, fühlt, wie sie sich langsam in Luft auflöst, bevor sie tatsächlich spurlos verschwindet. Nachdem sie ein einziges und letztes Mal auf sich aufmerksam gemacht hat. Mit dem brutalen Mord an einer Frau, die sie für Sonja Katzenhof hält. Das blonde Modell mit den mehrfach aufgepumpten Brüsten, die scheinbar all das besitzt, was Susie fehlt. Doch selbst bloß Opfer ist. Eines pädophilen Vater, des untreuen Geliebten und Managers, der sie zu immer weiteren Brust-OPs drängt, und einer hysterischen medialen Vermarktungsstruktur, angeführt von der Gazette "BLATT", die Sonja solange im Blitzlichtgewitter erstrahlen lässt wie sie bereit ist, ihre Silikonbrüste und Blondinementalität zur Schau zu stellen. Sonja, das ewige Missbrauchsopfer, ist längst dabei, Susies Schicksal zu teilen: aus der Welt zu verschwinden. Bleibt einfach stehen und ist weg. Eine kurze Zeit lebt sie noch als Schlagzeile, doch dann sind Kannibalen an der Reihe, ausgeschlachtet zu werden. Bevor eine weitere Freakshow ins Zentrum der Aufmerksamkeit gezerrt wird.
Als Susie ihren Mord begeht, ist Sonja bereits verschollen. Susie zerbricht an Sonjas Biographie, die Verzweiflungstat ist ein letzter Schritt auf Sonja, das verblasste Idol, zu. "0" ist der Treffpunkt. "Noirville" habe ich zuerst den Titel verlesen. Eigentlich ein passender Name. Otto Seusse trifft ein. Bleibt kurz und irrt weiter. "SS" werden vom Sande verweht. Wie die Opfer der Sterns, die Sterns selbst oder Martin, der Manager, der sich irgendwann nicht mehr sicher ist, Sonja nur erträumt zu haben. Wie Otto Seusse, den er in seiner Kindheit erfand. Martin überlebt die Zweifel nicht. Im Gegensatz zum Autor der Fleischwölfe, der das Drehbuch zum Skandalfilm, gemeinsam mit dem Anwalt Gideon Blum, verfasst.
Rohm erscheint kurz, hebt einen Daumen und zieht weiter, zwei Novellen hinterlassend, die natürlich alles andere als herkömmliche Spannungsliteratur sind. Manchmal ein wenig zu plakativ zusammengesetzt, zu sehr auf vertraute Muster bauend.
Gewalttätig, zerhackt und finster fabulierend im Gewand einer szenischen Aufführung, die erste Episode; eine dunkle Dekonstruktion deprimierender Sozialdramen und abgeschmackter Doku-Soaps, die zweite. Mr. Lynch and Mr. Rohm dancing in the twilight zone. Kurz. Ein letztes Aufflackern. Wrong Turn. Ausfahrt verpasst. Der letzte macht das Licht aus und nimmt die Kamera mit.
Guido Rohm, Evolver
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