Das Ende der Unschuld
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2012
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- New York: Little, Brown, 2011, Titel: 'The end of everything', Seiten: 246, Originalsprache
- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012, Seiten: 286, Übersetzt: Isabel Bogdan
You reach your hand to hold me, but I can't be your guide
The End Of Everything: DAS hat der Verlag, bei ansonsten gelungener Übertragung ins Deutsche, dann doch nicht wörtlich als Titel übersetzt. Zu schade eigentlich. Denn um genau diesen Moment geht es in Megan Abbotts Roman, wenn alles zu Ende sein scheint, wenn Zeit, Handlungen und Denken in einem einzigen Moment der Erstarrung kulminieren, bevor die Welt sich aufzulösen beginnt.
Und etwas Neues beginnt. Doch das sieht man nicht, kann man nicht erkennen oder möchte es (noch) nicht. Vor allem in der Pubertät, wenn Empfindungen eine Stärke besitzen, die Erdbeben auslösen kann, in der Gedanken und Körpererfahrungen sich zum ersten Mal ihren Weg mit Macht bahnen und so groß erscheinen wie später selten wieder.
Lizzie ist dreizehn, hellwach, aufmerksam und erwartet eigentlich einen Sommer zu erleben wie so viele zuvor. An der Seite ihrer Freundin Evie die Welt und die Menschen ihrer Umgebung erforschen, Spaß haben, Fragen stellen und sich in der sorgsam gehegten Behaglichkeit der Detroiter Vorstadt in lauen Sommerabenden verlieren.
Doch verloren geht Evie. Eben war sie noch mit Lizzie zusammen, dann verschwindet sie spurlos. Lizzie ist von Beginn an in die Suche involviert, nicht nur als engagierte Freundin, sondern als Zeugin und später als Detektivin auf ganz eigenen Pfaden. Sie liefert den ersten Hinweis, spendet Hoffnung und Trost, vor allem Evies Vater Mr. Verver, den Lizzie anhimmelt. Der eigene Vater spielt kaum eine Rolle in ihrem und dem Leben ihrer Mutter, weniger noch als der unscheinbare, freundliche, doch fast durchsichtige Dr. Aiken, der sich mit Lizzies Mom trifft. Zunächst heimlich als verheirateter Mann. Je weiter er sich von seiner Ehefrau entfernt umso wichtiger wird er allerdings für Lizzie. Und sei es als Informant.
Lizzie denkt, handelt mit der ausdauernden Konsequenz einer hartnäckigen Forscherin; sie mag manchmal verwirrt sein, unsicher und irrational, doch selbst im Zögern ist sie zielstrebig. Misstrauisch beäugt von Evies großer Schwester Dusty, dem nahezu überirdischen Hockey-Star, angehimmelt von so vielen, doch nie erobert. Denn da gibt es den einen, der so nah ist und doch außer Reichweite. Als Lizzie zu verstehen beginnt, sind die äußerlichen Konstellationen fast wiederhergestellt. Aber etwas hat sich verändert, fühlt sich verkehrt an. Abbott genügen kleine Gesten, Randbemerkungen um diese Unsicherheiten geradezu fühlbar werden zu lassen. Lizzie hat ein Puzzle zusammengesetzt, hat hinter Fassaden geblickt und sich ihren Reim drauf gemacht – der mitunter klüger ausfällt als einer realen Dreizehnjährigen entsprechend; geschenkt, Lizzie ist die Essenz jenes Lebenszeitraums, in ihr wachsen, gedeihen und explodieren unendlich viele der Gedanken und Emotionen, die Gleichaltrige bewegen.
Es waren einmal zwei Freundinnen, die sich Rätsel und Geheimnisse ausdachten, die ihren Gedanken und Erinnerungen nachhingen, bis sie feststellten, dass man sich Rätsel und Geheimnisse nicht ausdenken muss, und dass man selbst Zentrum von Gedanken und Erinnerungen sein kann. Selbst wenn diese von Grund auf falsch sein mögen.
Das Ende der Unschuld ist ein Roman über die Macht des Trügerischen. Ob Beziehungen, Gedanken oder eben Erinnerungen, die etwas auslösen; Sehnsucht, Hoffnung, Verzweiflung oder klare Erkenntnis. The End Of Everything heißt Verlust: Der Kindheit, von Vorstellungen, Wünschen oder des Lebens. Es wird einen Toten geben, versprochen. Es dauert zwar bis Seite 237, aber wer Romane wegen herumliegender Leichen liest, ist hier eh falsch, bekommt aber trotzdem einen toten Körper auf dem Tablett serviert. Das Ende eines Traums, aller elaborierten Pläne, die sich als verzweifelter und vergeblicher Versuch entpuppen, aus einem normierten Leben auszubrechen. Was leicht zu einem spekulativen Pamphlet über Pädophilie hätte werden können, lässt Megan Abbott zu einem poetischen Diskurs über Existenzen in der Schwebe werden, zu einer vielschichtigen Erzählung, in der Erwachsene häufig hilfloser erscheinen als (ihre) Kinder. Hervorragend eingefangen nicht nur im Zentrum, sondern gerade in den Nebenfiguren. Wie Evies und Dustys Mutter, die ein verhuschter Schatten bleibt, der in der von Lizzie überhöhten Aura ihres charismatischen Mannes gar keine feste Form entwickeln kann. Lizzie nimmt sie nur als Schemen wahr, anders als die eigene Mutter, deren unfreiwillig präsentierte Körperlichkeit die junge Erzählerin nachhaltig irritiert.
Von der Atmosphäre – nicht der Handlung – her erinnert Das Ende der Unschuld an Sofia Coppolas wundervollen Film "The Virgin Suicides". Figuren in einer Landschaft, die sich Vorstadt nennt, oder Dorf oder Nachbarschaft, die sich belauern, die gefangen sind in alltäglichen Regularien, geprägt von unterdrückten Emotionen und Obsessionen. Liebe, Verrat und Besessenheit gehen Hand in Hand, überschreiten manchmal die gesetzten Grenzen und werden so zur Hoffnung wie zur Katastrophe. Es gibt diesen Moment, in dem Kirsten Dunst in den sonnendurchfluteten Himmel schaut, Trauer und ein aufkeimendes Lächeln zugleich im Gesicht. Ein eingefangener Moment in dem alles möglich scheint; eine Zukunft mit sämtlichen Optionen für ein glückliches Leben oder das abrupte Ende.
Am Ende steht im Film das große Rätselraten: Warum haben sich die Lisbon-Mädchen umgebracht? Auch wenn das Leben bei den verknöcherten, überbesorgten Eltern nicht so dolle war, eine tödliche Bedrohung war es nicht. Doch es muss einen Moment absoluter und kollektiver Klarheit gegeben haben, in dem sich die Schwestern sicher waren: Hier endet es.
Megan Abbott schickt ihre Protagonistin ins Zentrum dieses Moments. Der sie prägt und - verstreicht. Das Leben geht weiter. Die dunklen Obsessionen werden bleiben…
… weshalb wir Lizzie auf ihrer Erforschungstour durch die kleinstädtische Welt der Geheimisse und Lügen gerne weiter folgen würden.
Das Ende der Unschuld ist ein Buch, das nachwirkt über die letzte Seite hinaus. Wir lassen Lizzie und ihre Umgebung auf einem Schlachtfeld zurück, auf dem bei weitem nicht alle Schlachten geschlagen und schon gar nicht gewonnen wurden. Oder wie "Moonlight Drive" es ausdrückt, jener Song, der mehrmals im Buch Erwähnung findet, ohne dass Megan Abbott seinen Inhalt und seine Herkunft weiter erläutert:
Come on, baby, gonna take a little ride
Down, down by the ocean side
Gonna get real close
Get real tight
Baby gonna drown tonight
Goin' down, down, down
2012 begann (fast) mit einem Roman, in dessen Mittelpunkt eine höchst faszinierende Protagonistin stand, der seine Leser forderte und polarisierte. Und es endet mit Werk, das man ähnlich umschreiben könnte, obwohl zwischen den geistesverwandten Protagonistinnen (noch) Abstände zu überwinden sind. Claire DeWitt und Lizzie. Deren Schöpferinnen einen gemeinsamen Blog mit dem charmanten Titel "The Abbott Gran Old Tyme Medicine Show" betreiben, in dem man u.a. Hintergründiges über die Bücher Sara Grans und Megan Abbotts erfahren kann.
Nothin' left open
And no time to decide
We've stepped into a river
On our moonlight drive
Megan Abbott, Kiepenheuer & Witsch
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