Flamingo
- Little, Brown
- Erschienen: Januar 1990
- 3
- Boston: Little, Brown, 1990, Titel: 'A Morning for Flamingos', Seiten: 294, Originalsprache
- : Little, Brown, 0
In der Hitze schwüler Nächte und Tage
Dave Robicheaux arbeitet für das Iberia Parish Sheriff's Department in New Iberia, einem kleinen Ort im US-Südstaat Louisiana. Ein Routineauftrag verwandelt sich in einen Albtraum: Mit seinem Partner Lester Benoit soll Robicheaux den Auftragskiller Jimmie Lee Boggs und den Mörder Tee Beau Latiolais in den Todestrakt des Staatsgefängnisses überführen. Boggs kann eine von Komplizen versteckte Waffe an sich nehmen; er erschießt Benoit und verwundet Robicheaux. Tee Beau soll ihm den Rest geben, täuscht aber den "Fangschuss" nur vor. So kann Robicheaux überleben, hat aber einen ernsten psychischen Knacks davongetragen.
Nur die Rache an Boggs kann ihm Frieden geben, doch der hat sich nach seiner Flucht in den Dienst des Mafiabosses Tony Cardo begeben, für den er unliebsame "Konkurrenten" aus dem Weg räumt. Nur über Cardo, der in New Orleans residiert, könnte Robicheaux an Boggs herankommen. Deshalb lässt er sich von einer Sondereinsatztruppe zur Drogenbekämpfung anheuern, die es auf Cardo abgesehen hat, und als Dealer in die Unterwelt von New Orleans einschleusen.
Diese Mission ist schwierig und gefährlich, denn Cardo ist ein Mann mit psychopathischen Neigungen, der jedoch gleichzeitig sehr menschliche Züge zeigt, was Robicheaux in eine moralische Zwickmühle bringt. Weitere Gefahren drohen: Boggs wurde von der Mafia-Konkurrenz auf Cardo angesetzt. Der Killer will auch Robicheaux endgültig beseitigen. Eine ehemalige Geliebte von Robicheaux taucht in seinem brisanten Doppelspiel auf. Sie könnte seine Verbündete oder eine Verräterin sein. Eine weitere Agentin taucht plötzlich auf. Der verwirrte Polizist verliert die Übersicht, wer Freund oder Feind ist, was sich bitter rächt, als er im großen Finale seinen endlich enttarnten Gegnern allein gegenübertreten muss ...
Die Welt ist weder schwarz noch weiß, sondern grau
Die Dave-Robicheaux-Romane gehören zu jenen Krimis, die von Kritikern generell lobend sowie als Beispiel erwähnt werden, wenn es gilt, die Brüchigkeit der Grenze zwischen Krimi-Unterhaltung und "richtiger" Literatur zu illustrieren. Über die Definition beider Genres ließe sich ebenso ausgiebig diskutieren wie über die Frage, ob eine solche Differenzierung nötig oder möglich ist. Fakt bleibt, dass James Lee Burke Geschichten erzählt, die auch den Laien ahnen lassen, dass er (oder sie) etwas Besonderes liest. Jeder Robicheaux-Roman ist nicht "nur" ein großartig geplotteter und geschriebener Thriller, sondern auch Teil einer Robicheaux-Chronik, die darüber hinaus fest in Geschichte und Gegenwart des US-Staats Lousiana verwurzelt ist.
Lousiana ist für Burke weit mehr als nur exotische Kulisse. Natürlich lässt er die bekannten Südstaaten-Klischees reichlich einfließen: Es ist heiß und feucht, die Vegetation wuchert ebenso üppig wie die Gefühle der Menschen. Rassismus und Gewalt sind allgegenwärtig; es folgen Korruption und Bigotterie. Burkes Verdienst besteht darin, besagte Klischees zu hinterfragen und zu abstrahieren, bis sie die - freilich literarisch "bearbeitete" - Realität widerspiegeln. Diese ist stets vielschichtig, was die bewegte Geschichte Lousianas begründet - ein Land, das französische Kolonie war, bevor es an die USA ging und das "europäisch" geprägt blieb. Später gehörte Lousiana zu den amerikanischen Südstaaten, deren Wirtschaft auf der Sklaverei basierte, die nach dem Bürgerkrieg von 1861-65 nahtlos in eine Rassendiskriminierung überging, die heute nicht mehr offensichtlich aber weiterhin sehr lebendig ist. Die daraus resultierenden Probleme sind immer integrales Element der Robicheaux-Romane.
Auch sonst hält sich Burkes angeschlagener "Held" immer wieder in den Schattenbezirken Louisianas auf. Der Sonnenstaat ist ein vom organisierten Verbrechen geplagtes Tropenparadies. Die Nähe zu Mittel- und Südamerika begünstigt den Drogenschmuggel im ganz großen Stil. In abgelegenen Sümpfen verkriechen sich religiöse und rassistische Fanatiker, die ebenso wirrköpfig wie schwer bewaffnet auf ihre Stunde warten. Sie sind verbandelt mit einer Politikerkaste, die sich weniger als Diener ihres Volkes, sondern als Angehörige einer Dynastie mit Privilegien auf Lebenszeit betrachten. Recht & Gesetz sind ihnen viel zu gern zu Diensten; Robicheaux' Ex-Partner und Freund Cletus Purcell ist so ein Gesetzesmann, der schwach wurde und sich kaufen ließ. Auf der anderen Seite stehen skrupellose Großkonzerne, die dank großzügiger Schmiergelder Gift und Abwässer speiende Fabriken inmitten von Naturschutzgebieten errichten. Lousiana mag die Heimat der Flamingos sein, die diesem Roman seinen Titel gaben, doch wenn sich diese schönen Vögel in einer rosafarbenen Wolke in die Luft erheben, bleibt unter ihnen ein hässlicher Sumpf zurück.
Der schillernde Schein und das moderne Verbrechen treffen in New Orleans nicht nur aufeinander, sondern sie gehen auch eine seltsame Koexistenz ein. Touristen sind wohlgelitten in der aufwändig restaurierten Altstadt mit ihren schmiedeeisernen Balkonhäusern und Jazzkneipen, doch die Seitenstraßen sollte man meiden. Burke vermag meisterhaft zwischen dem reizvoll "verkommenen" und dem wirklich kriminellen New Orleans zu differenzieren. Er spart dabei nach dem Vorbild seiner Schriftstellerkollegen Carl Hiaasen oder John W. Hall nicht mit deutlichen aber ironischen Worten, denn selbstverständlich pflegen die Stadtväter ausschließlich das Bild der verlockenden Südstaatenmetropole mit zwar lockeren aber doch präsenten Sitten.
Wo "Gut" und "Böse" ineinander verschwimmen
Dabei predigt Burke nicht, sondern projiziert das, was er zu sagen hat, auf die Figuren seiner Romane. Mit Dave Robicheaux ist ihm dabei ein bemerkenswerter stimmige Hauptfigur gelungen. Zwar ist seine Vergangenheit als traumatisierter Vietnam-Veteran in der Nach-Rambo-Ära zum Klischee verkommen, doch Robicheaux' Charakter weist viele Fassetten auf. So ist er ein Opfer seiner unglücklichen Kindheit, die ihn erst depressiv und dann zum Alkoholiker werden ließ, der sein berufliches wie privates Leben in den Sand setzen musste, bevor ihm ein Neuanfang glückte. Damit hat er die Vergangenheit allerdings nicht hinter sich gelassen - die Allgegenwärtigkeit von Vergangenheit ist ein ständig wiederkehrendes Motiv in den Robicheaux-Romanen.
Weiterhin steht Robicheaux, inzwischen beruflich wieder im Sattel und privat "trocken" sowie Vater einer Adoptivtochter, nie weit vom Abgrund. Dieses Mal ist es Jimmie Lee Boggs, ein "White Trash"-Unhold wie aus dem Bilderbuch, der ihn hineinstößt. Boggs ist in Gestalt, Rede und Handeln Fleisch gewordene Bedrohung. Burke ist exzellent darin, eigentlich überzogene Schurkenfiguren in echte Angstgestalten zu verwandeln. Dabei vergisst er nicht das Milieu zu schildern, das solche Kreaturen hervorbringt: Die Gesellschaft ist mitschuldig an dem Grauen, das sie über sich bringt. Will sie den Benachteiligten keine Chance gewähren, wird immer ein Jimmie Lee Boggs nachwachsen.
Oder ein Tee Beau Latiolais. Er gehört zur schwarzen Unterschicht des Südens, die zwar nicht mehr offen diskriminiert, doch wie eh und je ausgebeutet und in Armut gehalten wird. Tee Beau wollte nicht kriminell werden, doch er hatte nie eine Chance, sich dem Verbrechen fernzuhalten. Robicheaux weiß das, und sollte er es vergessen, erinnert ihn Tante Lemon, Tee Beaus verbitterte Großmutter, die weit älter als die Rassenintegration ist, mit der Inbrunst einer verdammten Seele daran.
Während Boggs das verkörperte Böse und Tee Beau ein Opfer der Verhältnisse ist, zeichnet Burke den Mafiosi Tony Cardo als weitaus komplexere Figur. Cardo ist in gewisser Weise Robicheaux' dunkles Spiegelbild, denn er weiß um die Dämonen, die diesen treiben. Er kämpft selbst mit ihnen, ist ihnen allerdings auch verfallen, was sich in zunehmend irrationalem Verhalten äußert. Robicheaux erkennt die geistige Verwandtschaft, die ihn moralisch ins Wanken geraten lässt: Cardo ist ein Kapitalverbrecher und weitaus "schädlicher" für die Gesellschaft als Boggs, doch Robicheaux fällt es schwer ihn zu verdammen, denn der Mafiosi trägt sympathische Züge und zeigt sogar Schwäche. Wie soll man einen solchen Gegner hassen? Robicheaux, der selbst oft in juristischen Grauzonen agiert, muss hier die Konsequenzen erkennen, die es haben kann, wenn man das Recht nach eigenem Gusto auslegt.
So fügen sich äußere und innere Handlung in "Flamingo" zu einer bemerkenswert dichten, trotz Abwesenheit expliziter "Action" unerhört spannenden Story, die - es mag abgeschmackt klingen, trifft aber den Kern - noch lange nach der Lektüre im Kopf bleibt, was nur gut ist, lässt es den Leser doch zuverlässig zu einem neuen Band des in Deutschland seltsamerweise immer noch nicht etablierten James Lee Burke greifen. Der Goldmann Verlag hat die Veröffentlichung der Reihe mit Band 12 offenbar abgebrochen. Die ambivalente Welt des Dave Robicheaux scheint nicht so gut verkäuflich zu sein wie die seifenoperlichen Krimi-Schmonzetten, Dan-Brown-Klone und Lady-"Thriller", die sich in den Buchläden stapeln.
James Lee Burke, Little, Brown
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