Der Jünger von Las Vegas
- Kein & Aber
- Erschienen: Januar 2012
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- Toronto: House of Anansi Press, 2011, Titel: 'The disciple of Las Vegas', Seiten: 424, Originalsprache
- Zürich: Kein & Aber, 2012, Seiten: 368, Übersetzt: Simone Jakob
Ein Engel für ONKEL
Der kanadische Autor Ian Hamilton, Jahrgang 1946, ist während seines Berufslebens ganz schön viel herumgekommen. Als Journalist, Diplomat und Geschäftsmann bereiste er die Welt und war schwerpunktmäßig im asiatischen Raum unterwegs. Gesundheitliche Probleme zwangen ihn Anfang des neuen Jahrtausends kürzer zu treten. Da Schreiben schon immer Hamiltons Leidenschaft gewesen war, begann er 2010 mit dem ersten Roman (Die Wasserratte von Wanchai) über die forensische Wirtschaftsprüferin Ava Lee.
Produktiv und mit der Freizeit eines Ruheständlers gesegnet, schrieb der Autor innerhalb von acht Monaten noch drei weitere Folgen, für die er auf Anhieb einen kanadischen Verlag interessieren konnte. Auch der Kein & Aber-Verlag, der für die deutschsprachigen Ausgaben zeichnet, scheint von der Qualität der Romane überzeugt zu sein. Zwei Folgen sind bereits erschienen, zwei weitere für 2013 avisiert. Optimismus in Ehren, aber den kann der Rezensent nicht so recht teilen. Allzu belanglos plätschert die Handlung daher, ohne dass sich ein Spannungsbogen aufbaut.
Der hier vorliegende zweite Band Der Jünger von Las Vegas kann ohne Kenntnis des Vorgängers gelesen werden, da der Autor gleich zu Beginn wesentliche Daten und Fakten über seine Heldin rekapituliert.
"Forensic Accountants", so die englische Berufsbezeichnung für den Job der Heldin, arbeiten in der Regel für Gerichte oder Staatsanwaltschaften. Ava Lee ist freiberuflich mehr in der Privatwirtschaft tätig und arbeitet auf Provisionsbasis. Väterlich umsorgt wird sie von einem über siebzigjährigen Chinesen, den sie respektvoll "Onkel" nennt. Ein Mann mit weitreichenden Beziehungen, der nicht nur Avas Auftragsbeschaffer, sondern ihr auch Freund, Berater und manchmal Retter in höchster Not ist. Für eine ausgesuchte Klientel treibt Ava Schulden ein oder sucht nach veruntreutem Geld. Ihr aktueller Auftrag führt sie zunächst auf die Philippinen. Ein dort ansässiger Chinese – man munkelt, er sei der reichste Mann im Inselstaat – vermisst die stattliche Summe von 50 Millionen Dollar, die in der Konzernfiliale im kanadischen Vancouver abhandengekommen zu sein scheint. Prekär ist, dass mutmaßlich Philipp Chew, der Bruder des Bosses, in der Sache involviert ist. So bedarf es viel Fingerspitzengefühls, dass keiner der Beteiligten, gemäß der chinesischen Lebensart, das Gesicht verliert. Genau der richtige Fall für die feinfühlige, wortgewandte, mit chinesischen Gepflogenheiten vertraute Agentin.
Ava Lee lässt ihre Verbindungen spielen und reist zuerst nach Vancouver, um Bruder Chew auf den Zahn zu fühlen. Dieser schützt Krankheit vor und wird von seiner Familie abgeschirmt. Ava bleibt nichts anderes übrig, sich genauere Informationen scheibchenweise zu besorgen. Sie jettet von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel und stößt in Las Vegas auf den "Jünger", einem professionellen Pokerspieler, der nicht nur in den Casinos von Sin City gefürchtet ist, sondern auch beim Online-Poker kräftig absahnt. Zu kräftig? Ava Lee vermutet eine geschickte Manipulation bei Online-Spielen mit besonders hohen Einsätzen, zu deren Opfern wohl auch der spielsüchtige Philipp Chew zu zählen ist.
Ian Hamilton Serienheldin besitzt alle Eigenschaften, die wir mit einer Actionfigur in Verbindung bringen. Sie ist blitzgescheit, eloquent. Ihr zierlicher Körper ist wohl trainiert und kampfsporterprobt. Natürlich sieht sie blendend aus und erntet so manch schmachtenden Blick aus der Männerwelt, in der sie sich hauptsächlich bewegt. Doch denen zeigt Ava Lee nur die kalte Schulter, denn sie ist nur ihrem eigenen Geschlecht zugetan. Ava trägt gerne Designer-T-shirts zu schlabbrigen Trainingshosen. Ihr Armbanduhrwerk ist vom Allerfeinsten. Sie bevorzugt löslichen Kaffee, duscht gerne, ausgiebig und oft (Oh, ja!). Also vielleicht doch zu eigenartig für eine idealtypische Actionheldin? Beruflich ist sie nicht die Tochter von Bruce, löst ihre Fälle nicht mit Kampfkraft, sondern mit Charme, Diplomatie und vorteilhaftem Hintergrundwissen. Leider kann keiner ihrer Kontrahenten ihr das Wasser reichen.
Der Jünger von Las Vegas ist ein Roman ohne wirkliche Höhepunkte. Die chronologisch verlaufende Handlung ist eine Aneinanderreihung von immer gleichen Szenen, nur dass die Schauplätze wechseln. Toronto, Hongkong, Manila, San Francisco, Vancouver, Victoria, Las Vegas, London – das sind die Stationen von Ava Lees Dienstreise, Überall gibt es für den Leser ein bisschen Sightseeing, sofern es die Heldin schafft, ihr Hotelzimmer zu verlassen. Ihre Verhandlungen sind mangels Gegenwehr unspektakulär. Die Kontrahenten wirken allesamt unsicher und ungefährlich. Selbst eine Killer- oder Schlägertruppe, die als ständige Bedrohung aus dem Hintergrund fungieren soll, entpuppt sich als ein müder Haufen. So bleibt die komplette Geschichte ziemlich spannungsfrei. Ohne dem Autor etwas Böses tun zu wollen, aber der Verdacht kommt auf, dass er den Roman erst einmal für sich geschrieben hat, zur eigenen Unterhaltung im wohlverdienten Ruhestand, was ja korrekt wäre. Aber ein großer Publikumserfolg wird Der Jünger von Las Vegas nicht werden, da gibt es im kriminalliterarischen Mittelfeld weitaus besseres, von der Oberklasse ganz zu schweigen.
Ian Hamilton, Kein & Aber
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