77 Tage

  • Grafit
  • Erschienen: Januar 2012
  • 2
  • Dortmund: Grafit, 2012, Seiten: 258, Originalsprache
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Andreas Kurth
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2012

Menschliche Dramen und traumatisierte Pfleger

Lila Ziegler und ihr Chef und Lebenspartner Ben Danner bekommen einen neuen Fall für ihr Detektivbüro, den sie zunächst nur widerwillig übernehmen. Der Besitzerin des Bochumer Pflegedienstes "Sonnenschein" macht die hohe Sterblichkeitsrate unter ihren Kunden einiges Kopfzerbrechen. Sie sorgt sich, dass unter ihren Mitarbeiter jemands sein könnte, der – aus welchen Gründen auch immer – nachhilft, und die betagten Pflege-Patienten ins Jenseits befördert. Lila wird schnell klar, warum Ben zunächst nicht von dem Auftrag begeistert war. Die beiden werden nämlich "undercover" als Anlernkräfte in den Pflegedienst eingeschleust, um den Fachkräften und Zeitarbeitern während ihrer fiktiven Einarbeitung auf die Finger zu schauen. Sie finden viele mögliche Motive, kommen aber nicht recht voran mit ihren Ermittlungen. Lila stößt dann aber in einem Blog auf die Beiträge einiger Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes, die sich alarmieren. Kompliziert wird es für die junge Detektivin, als plötzlich ihr Bruder vor der Tür steht und sie zurück in den Schoß der Familie holen will. Und auch beim Pflegedienst wird es dramatisch – es gibt einen merkwürdigen weiteren Todesfall.

In ihrem vierten Roman um die junge Privatdetektivin Lila Ziegler hat sich Lucie Flebbe ein gesellschaftlich relevantes und durchaus heikles Thema für ihren Plot ausgesucht. Es geht um Pflege-bedürftige alte Menschen, die Probleme der Familie mit diesem Zustand und die Arbeitsbedingungen in ambulanten Pflegediensten. Im Grunde ist bekannt, unter welchem zeitlichen und emotionalen Stress die Mitarbeiter dieser Dienste arbeiten müssen, aber es wird in der Regel lieber nicht zur Kenntnis genommen – so lange man davon nicht betroffen ist. Dabei ist das Problemfeld für alle relevant, oder kann es irgendwann werden.

Die Autorin zeichnet ein realistisches Bild, und geht dabei richtig in die Tiefe. Es gibt Probleme zwischen den Fachkräften im Dienst, die eine entsprechende Ausbildung haben, und den Anlernkräften. Eine weitere Kluft existiert zwischen den fest angestellten Mitarbeitern, und denen, die bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt sind. Die Hierarchie ist im Grunde fixiert, und dennoch kommen immer wieder Diskussionen auf, weil es einige ältere Kolleginnen gibt, die sich Zeit für ihre Patienten nehmen – und den anderen, die pünktlich Feierabend machen wollen oder müssen, wird das dann von den zu Pflegenden vorgeworfen. Für Zoff ist also bestens gesorgt, und das zeigt Lucie Flebbe in ihren gut formulierten Dialogen auch.

Die Autorin ist offenbar hervorragend über die Situation in der ambulanten Pflege informiert. Also hat sie entweder perfekt recherchiert – oder war selbst "undercover" unterwegs. Jedenfalls zeigt sie brillant auf, dass für einige Mitarbeiterinnen die Arbeit ein Job ist wie jeder andere, während sich vor allem die Älteren zur Hilfe am Patienten berufen fühlen. Dabei spielt natürlich die Biografie der Pflege-bedürftigen Seniorinnen und Senioren eine große Rolle. Lucie Flebbe schildert in ihrer flüssig erzählten Geschichte einige beeindruckende Fälle, die durchaus exemplarisch sein dürften. Diese Schilderung der Branche macht betroffen und nachdenklich – wirklich gelungen.

Auch wenn es zunächst keinen konkreten Fall gibt, den die Detektive untersuchen können, baut die Autorin dennoch unterschwellige Spannung auf, denn ihre Geschichte fesselt den Leser durch die gut gezeichneten Personen, durch die ganzen Umstände – und die zahlreichen Rätsel, die von der Autorin eingebaut werden.

Ein zweite Erzählung läuft parallel zu der allgemeinen Handlung. Hier geht es um die 32-jährige Pflegerin Bella, die in ihrem Blog von ihrer nach zehn Jahren Partnerschaft geschlossenen Ehe berichtet. Der Mann wird in der Ehe gewalttätig – und das ganze steuert auf eine Katastrophe zu. Die Vergangenheit des noch frischen Paares Lila und Ben wird ebenfalls aufgearbeitet – und damit wird der Roman schließlich etwas überfrachtet. Lila ist vor ihrer gesamten Familie, insbesondere aber vor ihrem tyrannischen und brutalen Vater von Hannover nach Bochum geflohen. Aber auch Ben hat eine schwierige Vergangenheit, und erst als die beiden sich gegenseitig offenbaren, wird ihr Verhältnis wieder gefestigt.

Den Teil mit Ben und Lila hätte ich gerne kompakter gelesen, denn auch so ist dieser Roman immens vollgepackt mit Handlung und nachdenklich machenden Umständen. Besonders gelungen ist das überraschende und packende Finale. Insgesamt präsentiert Lucie Flebbe eine gut erzählte und lesenswerte Geschichte. Das Duo Lila und Ben hat noch reichlich Potenzial - und Bochum bietet sicher noch etliche erzählenswerte Geschichten.

77 Tage

Lucie Flebbe, Grafit

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