Der Schrei der Engel
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2013
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- London: Orion, 2010, Titel: 'Saints of New York', Seiten: 452, Originalsprache
- München: Goldmann, 2013, Seiten: 470, Übersetzt: Stefan Lux
Der Fluch des (schein-) heiligen Cops
Detective Frank Parrish, Beamter der Mordkommission des 126. Reviers in New Yorks South Brooklyn, stand stets im Schatten seines Vaters. John Parrish gehörte zu den "Saints of New York", einer Spezialeinheit, die in den 1970er und 80er Jahren die Mafia der Stadt bekämpfte und beachtliche Erfolge verzeichnete. Vielfach dekoriert wurde John 1992 im Dienst ermordet und als Held zu Grabe getragen.
Frank kennt die weniger schmeichelhafte Wahrheit: Sein Vater stand auf der Gehaltsliste der Mafia, die ihm dafür kleine Fische ins Ermittlungsnetz trieb. Für seine wahren Dienstherren ließ Parrish Senior Akten und Zeugen verschwinden, die er notfalls selbst umbrachte. Nie wurde er zur Verantwortung gezogen, denn das korrupte System ruhte perfekt in sich.
Die Lüge des Vaters ließ den Sohn niemals los. Parrish Junior ist ein fähiger Cop, nach zwanzig Dienstjahren jedoch am Ende – geschieden, den Kindern entfremdet, alkoholsüchtig und von einem Selbstzerstörungsdrang beseelt, den er nicht mehr kontrollieren kann. Dennoch wird Parrish aufmerksam, als er den Mordfall Rebecca Lange übernimmt, die von ihrem Mörder neu eingekleidet, frisiert und geschminkt wurde: Hier gibt es deutliche Parallelen zu einem früheren, nie geklärten Mädchenmord.
Die Aktendurchsicht enthüllt gar vier weitere Morde, die dem Tatprofil entsprechen. Offensichtlich treibt ein Serienkiller sein Unwesen, der eine diabolische aber ausgezeichnete Methode zur Opfersuche entdeckt hat: Die Spur führt ins Jugendamt der Stadt New York. Dort wertet der Täter die Akten der angeschlossenen Adoptionsagenturen aus. Zwar gerät Parrish rasch ein Verdächtiger ins Visier, doch da die Beweise eine intensive Ermittlung nicht gestatten und ein neuer Mord droht, beschließt er, die Vorschriften zu ignorieren …
Ausgebrannter Bulle Nr. 8455?
Die Welt ist bekanntlich schlecht. Wer dies persönlich nimmt oder gar versucht dem abzuhelfen, ist in der Regel kein Politiker, sondern ein Cop (oder Privatdetektiv). Jack Parrish ist ein Paradebeispiel für einen solchen Ritter, der u. a. auch daran zu zerbrechen droht, dass er sämtlichen Klischees entsprechen soll. Also ist er das Relikt einer Ära, als Polizisten noch ohne Handy, PC oder Gel im Haar richtige Ermittlungsarbeit leisteten, d. h. persönlich Spuren am Tatort begutachteten und Zeugen befragten. Eigentlich müssten Recht & Ordnung bereits zusammengebrochen sein, da der Cop der Gegenwart primär damit beschäftigt ist, seine Karriere in Gang zu halten. Dabei gilt es Politikern die Füße zu küssen sowie medienpräsent zu sein – Praktiken, denen ein Schlachtross wie Parrish natürlich nur mit Verachtung begegnen kann.
Mit der Nase in der Gosse findet Parrish Schurken und Zeugen. Damit kam er durch, solange er funktionierte und für Festnahmen sorgte. Doch als weiteres Klischee will bedient werden, dass die Polizeiarbeit ihren Tribut forderte. Erst wurde sie Parrish zur Obsession, dann fraß sie sein Privatleben. Wenn er überhaupt Feierabend machte, suchten ihn die Erinnerungen an die im Dienst erlebten Scheußlichkeiten heim. Ehefrau und Kinder verstanden dies nicht und verließen ihn. Nun haust Parrish in einem Loch zwischen nach Jahren immer noch nicht ausgepackten Umzugskartons. Einziger Kontakt zur Außenwelt ist eine Edel-Prostituierte mit goldenem Herzen.
Noch etwas vergessen? Ach ja: Parrish säuft selbstverständlich und brüskiert seine bisher duldsamen Vorgesetzten. Über ihm schwebt deshalb das Damoklesschwert der Suspendierung, die ihm endgültig den Lebenssinn nehmen würde. Zu allem Überfluss wird Parrish ein enthusiastischer Frischling an die Seite gestellt; dabei hat er den tragischen Tod seines alten Partners längst nicht verwunden.
Wie der Vater, so der Sohn?
Schon diese Litanei des Schreckens würde vollauf genügen, Frank Parrish als verlorene Seele zu charakterisieren, die – auch das ist ein Klischee – durch einen neuen Fall aus ihrer Lethargie gerissen wird, ohne dadurch in der Selbstzerstörung nachzulassen. Aber Autor Ellory ist das noch lange nicht genug. Parrish leidet auch unter einem familiären Trauma. Alle Welt hält seinen Vater für einen Helden-Cop, der den Mafia-Strolchen New Yorks ordentlich eingeheizt hat. Parrish kennt die traurige Wahrheit und reibt sich daran auf. Wie es sich für einen Helden in seiner Privathölle gehört, will niemand wissen, was für ein Schwein John Parrish war: "When the legend becomes fact, print the legend", lässt Regisseur John Ford einen zynischen Realisten in "The Man Who Shot Liberty Valance" (1962; "Der Mann, der Liberty Valence erschoss") einen grundlegenden Aspekt allzu menschlicher Selbsttäuschung in Worte fassen.
Hier kommen wir an einen Punkt, an dem Ellory es übertreibt: Viele, viele Seiten füllt er mit Erinnerungen an das mafia-verseuchte New York der 1960er und 70er Jahre. Der Autor hat sorgfältig recherchiert, seine Schilderungen fassen die Ereignisse historisch adäquat zusammen. Dieser Aufwand lässt den Handlungsfaden indes aus seiner Spule springen: Glaubt der Leser lange, dass Ellory mit seinen Reminiszenzen eine handlungsrelevante Wendung vorbereitet, muss er schließlich erkennen, dass zwischen Johns Mafia-Vergangenheit und dem gegenwärtigen Geschehen keinerlei direkte Beziehungen bestehen. John ist ´nur´ das Gespenst im Nacken des Sohnes. Was den Vater tötete, ist für Frank keine Gefahr mehr.
Diese Erkenntnis ist ernüchternd. Hat sich Ellory so in seine recherchierten Fakten verliebt, dass er sie in seine Geschichte einfließen lässt, bis sie diese zu ertränken drohen? Dass John Franks Leben geprägt oder zerstört hat, ist schon früh klar. Ellory könnte sich und seinen Lesern weitere Erinnerungen, die nur Wiederholungen bedeuten, ersparen. Dass er sich dennoch in ihnen verbeißt, belegt einen Unterton, der dem Verfasser mindestens ebenso wichtig ist wie seine Geschichte: Auch Roger Ellory ist ein ´Überlebender´, der die Wunden einer verlorenen Kindheit trägt. In seinen Romanen kommt er durchaus zwanghaft aber eindringlich immer wieder darauf zurück.
Den Frust im Nacken
Dass Der Schrei der Engel trotz dieser Abschweifungen (sowie trotz eines wieder einmal erzdämlichen deutschen Titels) auch den prosaisch veranlagten, auf den Krimi-Plot konzentrierten Leser fesselt, liegt am Talent eines Autors, der die eigentlich langweilige Routinearbeit der Polizei mit einer Intensität darzustellen weiß, die den Wust der Klischees vergessen lässt. Die mühsame, frustrierende, immer wieder in Sackgassen endende Suche nach einem Serienkiller, der eine sichere Nische im Moloch der modernen Verwaltung gefunden hat, ist überaus spannend. Parrish ist kein Super-Cop, der einen genialen Schurken zu fassen trachtet. Stattdessen geht ein Polizeibeamter geradezu unerbittlich methodisch vor, um einen gänzlich charismafreien, einfach nur schlauen Mörder zu entlarven.
Der Zufall macht sich rar, Wunder bleiben aus. An ein Happy-End mag der Leser ohnehin nicht glauben – der Tenor dieser Geschichte ist düster. Das Finale ist gleichermaßen dramatisch wie tragisch, ohne in Gefühlsduselei zu versinken. Frank Parrish versaut es und kann die Mordserie dennoch stoppen. Auf seine Weise wird Parrish zum "Heiligen von New York" – und zum Märtyrer: Das Ende erlebt er gerade noch lebendig aber ohne Job. Ob er endlich mit seiner Vergangenheit und der Erinnerung an den Vater Frieden schließen kann, lässt Ellory geschickt und glücklicherweise offen.
Obwohl Der Schrei der Engel ein seitenstarkes Buch ist, legt der Verfasser ein atemberaubendes Tempo vor, das zum dargestellten Höllenritt passt. Diese Geschichte gehört Frank Parrish, die zahlreichen Nebenfiguren sind seinem Zorn nie gewachsen. Auch eine Psychotherapeutin, die Frank auf Druck seiner Vorgesetzten ´besuchen´ muss, erlebt keinen Patienten, sondern einen Gegner, mit dem sie zumindest verbal kämpfen muss, damit er sich ihr öffnet. Auch hier lässt Ellory kein Hintertürchen zu: Obwohl Frank Parrish allmählich begreift, wie er tickt, ändert dies nichts an dem Crashkurs, zu dem sein Leben geworden ist. Die Vergangenheit ist letztlich stärker als die Gegenwart: Der Leser ist beeindruckt, wie konsequent Ellory dies auf den Punkt bringen und schließlich doch mit seiner Geschichte verschmelzen kann!
R. J. Ellory, Goldmann
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