Todesfrist
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2013
- 24
- München: Goldmann, 2013, Seiten: 416, Originalsprache
Der <cite>Struwwelpeter</cite> stand Pate
Andreas Gruber begann seine schriftstellerische Laufbahn im Phantastik-Genre. Seine Kurzgeschichten-Sammlungen erbrachten ihm über mehrere Jahre Nominierungen und vordere Plätze beim Deutschen Phantastik-Preis. Sein erster kompletter Roman Der Judasschrein erreichte ebendort den 1. Platz. Nach einem weiterer unheimlichen Thriller änderte Gruber seine Ausrichtung hin zum Psycho-Thriller. Die ersten Zwei dieser Art Schwarze Dame und Die Engelsmühle mit dem gemeinsamen Helden Peter Hogarth erschienen im Festa-Verlag und verkauften sich gut. Den großen Durchbruch gelang Gruber dann mit Rachesommer, der 2010 zuerst als Buch-Club Premiere veröffentlicht wurde, 2011 folgte die Taschenbuchausgabe bei Goldmann. Beim größten deutschen Buchversender wurde Rachesommer mit Lobpreisungen geradezu überschüttet - was den Rezensenten eher skeptisch macht und hält sich seitdem in oberen Regionen der hauseigenen Büchercharts. Skepsis hin und her, wenn die Neugier geweckt ist, lässt man sich dann doch zum Kauf verführen. Leider hielt Rachesommer nicht das, was so vielstimmig versprochen wurde. Guter Durchschnitt wie hundert andere auch. Da ist Todesfrist schon von ganz anderem Kaliber.
Todesfrist gibt es zur Zeit (September 2012) nur als Gebundene Ausgabe, wieder im Bertelsmann Buch-Club. Auf das Taschenbuch muss man bis zum März 2013 warten. Warten oder kaufen? Man muss ja nicht gleich dem Club beitreten. Second Hand bietet einige attraktive Angebote. Ob jetzt oder doch später es lohnt sich. Auch wenn Andreas Gruber den Serienkiller-Roman nicht neu erfindet, gelingt ihm das, woran fast alle anderen bei diesem Thema scheitern, nämlich eine glaubhafte Story zu schreiben. Zudem wartet der Autor mit einem wundersamen Helden auf.
Dieser heißt Maarten S. Sneijder, ist Holländer von Geburt und Fallanalytiker und forensischer Psychologe von Beruf. Momentan ist er für das BKA in Wiesbaden tätig. Maarten S. ist ein schlaksiger Typ mit kahlrasiertem Schädel und einem fadendünnen Bart, wie Rapper ihn gerne tragen. Ständig mit Selbst-Akupunktur gegen seine Cluster-Kopfschmerzen ankämpfend, kifft er, wo er geht und steht, wie ein Schlot. Sein Verhalten den Kollegen, aber auch Opfern und Zeugen gegenüber ist grobschlächtig und verletzend. Seine Verbalattacken strotzen vor Zynismus. Er weiß alles und hat immer recht. Kurzum, er macht auf "Ekelpaket" - das volle Programm. Dass hinter dieser Fassade ein hochsensibler, liebevoller Charakter steckt, merken nicht nur die Kollegen sehr schnell, sondern auch der Leser. Andreas Gruber stellt diese Figur dermaßen überzogen und mit Klischees behaftet vor, dass sie einfach nur Spaß macht und somit den vorgeblichen Ernst des Subgenres Serien-Mörder-Thriller konterkariert. Sein aktueller Fall führt den smarten Maarten nach München.
In München ermittelt Sabine Nemez, Kommissarin beim Kriminal-Dauerdienst, auf vollen Touren, obwohl sie gar nicht zuständig ist. Aber sie ist zweifach betroffen. Zum einen ist ihre geschiedene Mutter entführt worden, zum anderen wird ihr in Köln lebender Vater vor ein Ultimatum gestellt, eine Rätselfrage innerhalb von 48 Stunden zu lösen, ansonsten stürbe seine ehemalige Frau. Ein Tag nachdem der Vater in München eintraf, wird die Leiche der Mutter in der Frauenkirche gefunden. Die Lungen voll schwarzer Tinte. Über einen Freund beim BKA gelangt Sabine an Daten, die ihr sonst nicht zugänglich wären. Es hat in der jüngsten Vergangenheit schon zwei ähnlich gelagerte Fälle gegeben, die mit einem Ultimatum begannen und mit einer Leiche in einer großen Kirche endeten. Sabine stellt eine weitere Gemeinsamkeit fest: die Morde orientierten sich an den Geschichten aus dem Struwwelpeter. Der mittlerweile eingetroffene Sonderermittler Maarten S. Sneijder ist beeindruckt. Gemeinsam geht er mit Sabine, die er für ebenbürtig hält, auf Mörderjagd.
Ob der Struwwelpeter auch heute noch als angesagtes Kinderbuch die Runde macht, ist eher unwahrscheinlich. In der Kindheit des Rezensenten gehörte es neben den illustrierten Geschichten von Wilhelm Busch zur Pflichtlektüre, noch nicht einmal primär aus pädagogischen Gründen. Es war schlicht vererbtes Lesegut. Die martialischen Geschichten von einst sind auf jeden Fall gut in Erinnerung geblieben.
Thriller-Autoren lassen ihre Serienmörder ja gerne nach bekannten Vorlagen morden nach Dantes Inferno, Freuds Tabus, den 10 Geboten oder irgendeinem relevanten Märchen. Der Struwwelpeter mit seinen grausamen Strafen ist geradezu prädestiniert, als Inspirationsquelle für ein blutiges Mörderspiel zu dienen. Bei seiner Umsetzung begeht Andreas Gruber nicht den Fehler, seinen Roman nun in einem Meer aus Blut ertrinken zu lassen. Die meisten Tatorte werden erst im Nachhinein aufgesucht und es bleibt der Fantasie des Lesers überlassen, sich den Tatverlauf rot oder rosa auszumalen. Nichtsdestotrotz ist Andreas Gruber kein Weichei. Wer seine Horrorromane kennt, weiß, dass er, wenn die Situation es erfordert, recht heftig zur Sache gehen kann. Aber die dargestellten Grausamkeiten sind nie Selbstzweck.
Wie eingangs erwähnt, legt der Autor eine glaubhafte Story vor. Thriller-Fans sind im Allgemeinen recht großzügig, was Ungereimtheiten oder Logikfehler in einer Geschichte anbelangt. In einem ansonsten stimmigen Plot kann man beim vielem ein Auge zudrücken.Was gar nicht geht, leider sehr oft gemacht wird und den Rezensenten immer wieder ärgert, weil es so unglaubwürdig ist, gegen Ende der Story ein Unsub als psychopathischen Mörder abzustempeln, der dann seitenlang über seine traumatisierende Kindheit schwadroniert.
Andreas Gruber hat einen anderen Weg gewählt. Er stellt seinen potenziellen Täter ausführlich vor, indem er ihn wegen anderer Auffälligkeiten zur Therapie schickt. Aus den Sitzungen erfahren wir Leser so einiges über ihn, aber zuerst nicht, was sein Knackpunkt ist, den die Therapeutin mit nicht immer erlaubten Mitteln herauszukitzeln versucht. Das Psycho-Duell der beiden, das über mehrere Runden geht, ist eine faszinierende Geschichte in der Geschichte. Toll gemacht und sehr glaubwürdig, soweit man das als Laie beurteilen kann.
Den Täter zu kennen, heißt jetzt nicht, ihn schon gefasst zu haben, denn dieser hier ist ganz schön clever und versteht es, sich mit allerlei Tricks einer Verhaftung zu entziehen. Aber er hat seine Rechnung ohne Maarten S. Sneijder aufgemacht, dessen übermenschlicher Durchblick an Prophetie grenzen, bis er sich einen dicken Klops einhandelt.
Andreas Gruber wandelt mit seinem Roman auf dem schmalen Grad zwischen Seriosität und Persiflage. Er entlarvt das Serienmörder-Thema als das, was es ist: die Ausgeburt der Fantasie ihrer Erzähler, die mit der Realität wenig zu tun hat, obwohl das Setting eine solche ständig vorgaukelt. So verbindet er Hochspannung mit unterschwelligem Humor, der immer ein Augenzwinkern parat hat, um einem verkniffenen Ernst in die Parade zu fahren. Wenn er seinen Super-Profiler so ganz nebenbei einen Rachefeldzug gegen eine große Buchhandelskette namens "Haital" (kennt jeder) durchziehen lässt, dann kommt nicht nur bei diesem diebische Freude auf.
So bewegt sich Andreas Grubers Todesfrist zwar auf ausgetretenen Pfaden, besticht aber durch Humor, Glaubwürdigkeit und einen außergewöhnlichen Hauptprotagonisten, dessen Eigendynamik eine fantastische Pace vorgibt, der sich selbst der Rezensent nicht entziehen konnte, der in Sachen Serienmörder normalerweise eine eher konservative Ausgestaltung vorzieht.
Andreas Gruber, Goldmann
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