Underground
- Random House Audio
- Erschienen: Januar 2012
- 10
- New York: Delaacorte, 2009, Titel: 'Gone tomorrow', Seiten: 421, Originalsprache
- Köln: Random House Audio, 2012, Seiten: 6, Übersetzt: Frank Schaff
Nichts ist mehr so (gut oder böse) wie früher
Auf seinem unendlichen und ziellosen Streifzug durch die USA ist Jack Reacher, ehemaliger Militärpolizist, aktuell in New York City. Als er in der U-Bahn sitzt, fällt ihm eine Frau auf, die alle Profilanforderungen einer Selbstmord-Attentäterin erfüllt. Reacher will sie aufhalten, doch in der Tasche von Susan Mark ist keine Bombe, sondern eine Pistole, mit der sie sich in den Kopf schießt.
Reacher fühlt sich für diesen Selbstmord mitverantwortlich. Außerdem wird er provoziert: Da Susan Marks eine Zivilangestellte des Pentagons war, nehmen ihn arrogante Bundesagenten in die Mangel; sie wollen feststellen, ob Marks, die geheime Dateien aus dem Verteidigungsministerium kopiert hat und deshalb unter Beobachtung stand, ihm eine Abschiedsbotschaft oder gar eine Kopie zukommen ließ. Wenig später stellen vier private aber ebenfalls unfreundliche Sicherheitsleute im Auftrag eines unbekannten Auftraggebers ähnliche Fragen.
Statt die Sache auf sich beruhen zu lassen, wird Reachers Neugier geweckt. Einige unvorsichtige Bemerkungen haben ihn auf die Spur des ehemaligen Elitesoldaten John Sanson gebracht, der nun im Kongress sitzt und sich um einen Senatoren-Posten bewirbt. Reacher nutzt seine Kenntnisse über den militärischen Verwaltungsapparat und findet heraus, dass Sanson vor beinahe drei Jahrzehnten an einer Geheimmission in Afghanistan teilnahm, die aus heutiger Sicht politisch absolut unkorrekt war.
Der Auftraggeber der Sicherheitsleute (s. o.) offenbart sich: Die ehemalige sowjetische Politkommissarin Swetlana Hoth und ihre Tochter Lila suchen nach einem US-Soldaten, der einst der Mutter das Leben gerettet hat. Für Reacher klingt dies allzu fantastisch. Er ermittelt weiter – und erregt den Zorn der US-Heimatschutzbehörde, die ihn als ´Staatsfeind´ verschwinden lassen will. Aber Reacher lässt nicht locker. Er ist einer Verschwörung auf der Spur, die zu Al-Qaida führt, wo man diese Verbindung um wirklich jeden Preis gekappt sehen will …
Hässliche neue Welt
Seit 1997 ist Jack Reacher unterwegs. Er hat sich aus einem System ausgeklinkt, das keine Verwendung mehr für ihn und sein besonderes Talent hatte: Reacher ist ein ausgezeichneter Ermittler, der Indizien sichern, erkennen und miteinander verknüpfen kann. Schon während er noch seinen Dienst als Militärpolizist leistete, erregte er den Widerwillen besagten Systems, weil ihm Ergebnisse über die Vorschriften gingen.
Als Privatmann hat Reacher seinen Job nur offiziell aufgegeben. Nach eigener Auskunft reist er durch die Vereinigten Staaten, um sich das Land anzuschauen. Tatsächlich ist er jedoch nicht "heute hier, morgen dort" – "here today, gone tomorrow", wie es der Originaltitel andeutet. Stattdessen wartet er auf Kriminalfälle, die einen klugen Kopf über starken Schultern erfordern. Reacher schaut nicht weg, sondern mischt sich ein, wenn er Zeuge von Verstößen wird, der sich – in dieser Reihenfolge – gegen das Menschenrecht, seinen Ehrenkodex und das Gesetz richtet, wie er es definiert.
Damit exponiert sich Reacher nicht nur gegen ohnehin kriminelle Zeitgenossen, sondern auch gegen die etablierten Vertreter von Recht und Ordnung. Hier stellt Autor Lee Child seit einiger Zeit eine unheilvolle Veränderung fest, die er an einem Datum festmachen kann: Die Ereignisse des 11.09.2001 bzw. "Nine-Eleven" brachten nicht nur den Terrorismus ganz großen Stils in die USA, sondern führten auch zu einer ´legalen´ Aufweichung der Menschenrechte. Der "patriot act" gestattet Geheimdiensten und Bundesbehörden einen vom Gesetz normalerweise so nicht gestatteten Zugriff auf verdächtige Personen: Sie KÖNNTEN Terroristen sein bzw. mit Terroristen zusammenarbeiten und dürfen deshalb nicht nur aus dem Verkehr gezogen, sondern auch einem ´verschärften´ Verhör unterworfen werden.
Die neue Dimension des Terrors
Als Ergebnis sieht Child zwei gleichermaßen gefährliche Phänomene: Auf der einen Seite ist der globale Terror weiterhin akut, während auf der anderen Seite entfesselte Terrorjäger Gesetz und Menschenrechte aushebeln können, dies auch tun und weitere Privilegien fordern. Deshalb kämpft Reacher nicht nur gegen al-Qaida, sondern auch gegen jene, die auf seiner Seite stehen müssten.
Natürlich ist Reacher ein Vigilant, dessen Gerechtigkeitstrip selbst gegen fixiertes Recht verstößt. Da er der Held einer Serie unterhaltender Thriller ist, kann ihm das nicht vorgeworfen werden. Child nutzt jedoch die Chance, auf die moralische Schieflage hinzuweisen, in welche US-Politik und -Justiz geraten sind, indem er die Folgen in seine Geschichte einfließen lässt. Das Ergebnis ist mindestens so beängstigend wie der simple Kampf gegen eine Horde messerschwingender Meuchelmörder: Der Staat führt Krieg gegen seine eigenen Bürger. Sie werden in Underground von den Polizeibeamten Jacob Mark und Theresa Lee verkörpert, die anders als Reacher nach den Regeln spielen und trotzdem in die Mühlen einer außerhalb geregelter Kontrollen agierenden ´Schutzbehörde´ geraten.
Das Prädikat "politisch korrekt" kann Underground also nicht für sich beanspruchen – dies auch deshalb, weil Child über Reacher Farbe bekennt: Die Schuld für die beschriebene Barbarisierung liegt für ihn letztlich bei den Strippenziehern des Terrors, hier also al-Qaida. Letztlich verhält sich Reacher wie eine Kampfdrohne ohne Fernsteuerung: Im großen Finale rottet er die Terroristenbrut aus, weil nur dies gerechte Strafe, Warnung und Verhütung künftigen Unheils gewährleistet.
Spannungsschraube mit vielen Windungen
Bis es soweit ist, wird der Leser auf manche falsche Spur geführt. Ausgewiesene Twist-Spezialisten wie Jeffery Deaver müssten angesichts der Leichtigkeit, mit der Child nicht einmal oder zweimal, sondern immer wieder die Handlungsachse in andere Richtungen biegt, eigentlich vor Scham in den Boden versinken. Underground bietet keineswegs ´nur´ Action der glaubwürdigen Art, sondern kann auch als Rätsel-Krimi bestehen. Worum es in dieser Geschichte geht, bleibt nach dem Willen des Verfassers bis zuletzt offen. Der Leser nimmt es mit der gewünschten Reaktion – fieberhafte Neugier – wahr und lässt sich gern von Childs an der Nase herumführen (auch wenn es heißt, zügig den Anschluss zu halten, um das Riechorgan vor aus Rasanz geborenen Dehnstreifen zu bewahren).
Die Action der Reacher-Romane ist eine Lektion in Sachen erwartungsvoller Spannung. Vorzugsweise gerät unser Held dort in die Bredouille, wo das Gelände übersichtlich oder sogar leer wirkt: eine U-Bahnstation, eine Nebenstraße, ein Kellerraum. Sorgfältig listet Child auf, was sich dort befindet und aus welchem Material es besteht. Solche Informationen sind wichtig, denn es verschärft die Frage, wie sich Reacher aus dieser hoffnungslosen Situation herauswinden wird.
Es gelingt ihm, weil er ein Profi ist, der anders als der Normalbürger die Möglichkeiten erkennt, die ein simples Stück Holz, ein Sack voller Müll oder ein Gummischuh bergen. Reacher beobachtet, ordnet ein, zieht Schlüsse, trifft Entscheidungen, kalkuliert Probleme ein. Die Konsequenz, mit der Child die in Worte fasst, mildert angenehm das Klischee von Reacher, dem Supermann, der zwar zeitweilig aufgehalten aber nie ausgeschaltet werden kann. Stattdessen ist der Leser bereit zu glauben, dass Reachers Fähigkeiten auf guter Ausbildung, Intelligenz und Wachsamkeit beruhen.
Tatsächlich ist dies eine (Selbst-) Täuschung. Ein Einzelkämpfer wie Reacher ist eine Wunsch- (bzw. Albtraum) Gestalt. Hin und wieder wird deutlich, dass sich die Bewohner seiner Welt wie auf Schienen bewegen. Er kann ihre Handlungen ein wenig zu deutlich und zuverlässig vorausahnen – das Privileg des Serienhelden, der für seine spannenden Taten mehr geliebt wird als für die Wahrung der Realität, die bekanntlich stets für böse Überraschungen gut ist. Lee Child hält in seinem 13. Reacher-Abenteuer die Zügel (wieder) fest in der Hand. Durchhänger, Seifenoper-Einschübe oder Tritte auf die Handlungsbremse gibt es nicht, was sich kurz & bündig so zusammenfassen lässt: Reacher bürgt weiterhin für Lektüre-Spaß.
Lee Child, Random House Audio
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