Der Tod von Sweet Mister
- Liebeskind
- Erschienen: Januar 2012
- 6
- New York: G. P. Putnam’s Sons, 2001, Titel: 'The death of sweet mister', Seiten: 196, Originalsprache
- München: Liebeskind, 2012, Seiten: 192, Übersetzt: Peter Torberg
Schreie in der Stille
Ein User schreibt im Forum der Krimi-Couch über Der Tod von Sweet Mister: "die zigste Variation des Themas: Vater prügelt, Mutter säuft...dazwischen ein orientierungsloser Heranwachsender".
Viel weiter kann man mit einer Einschätzung nicht daneben liegen. Denn natürlich ist Woodrells, kaum 190 Seiten langer, Roman wesentlich mehr, und vor allem etwas komplett anderes. Denn die oben erwähnten Schlagworte sind nur winzige Teile eines großen Puzzles. Dass Glenda, die Mutter des fülligen ("Fettsack" nennt ihn sein Vater/Stiefvater Red nur) Morris "Shug" Akins ihre Rum-Cola euphemistisch "Tee" nennt, ist ein Detail am Rande, das im Verlauf der Handlung immer mehr an Bedeutung verliert. Ebenso das Schicksal des gewalttätigen Red, der nur an seiner Bedürfnisbefriedigung interessiert ist, und alles und jeden wie Dreck behandelt, der der Erfüllung seiner Gelüste im Weg steht. Er ist eine unberechenbare Macht in jener unwirtlichen Gegend im Süden Missouris, dem Ozark-Plateau, wo auch dieser, fünf Jahre vor Winter’s Bone erschienene Roman, spielt. Ein Symbol für den Fatalismus, der alle Personen auszeichnet. Shug hasst seinen angeblichen Vater zwar, ist aber (noch) zu schwach, ihm Paroli zu bieten; seine Mutter Glenda hat sich scheinbar mit ihrem Schicksal abgefunden, und löst, als sie es endlich in die eigenen Hände nimmt, eine Katastrophe aus. Sie unterschätzt Reds Einfluss auf Shug völlig und ist sich auch der ödipalen Obsession nicht bewusst, die der Dreizehnjährige für sie empfindet.
Als ein grüner Ford Thunderbird auftaucht und mit ihm der weltgewandte Koch Jimmy Vin Pearce, keimt zum ersten Mal Hoffnung auf, in der zwischen alltäglicher Gewalt, Friedhofsgärtnern, Einbrüchen, "Männersachen" und Drogenkonsum jeder Couleur changierenden und doch so festgefahrenen kleinen Welt. Doch wo Hoffnung ist, lauert auch Enttäuschung. Und dass die sich in den Ozarks nicht mit Worten bewältigen lässt, dürfte niemand verwundern.
Der Tod von Sweet Mister" ist ein "Coming Of Age"-Roman. Erzählt aus Shugs Perspektive, schildert Woodrell die schleichende Veränderung des Jungen. Nicht unbedingt zum Guten. Und das ist der Hauptunterschied zu Winters Knochen, als dessen Vorstudie man Der Tod von Sweet Mister zwar betrachten könnte, wenn ihm nicht eine positiv besetzte, starke Hauptfigur vollkommen abginge. Ebenso ist das eng verwobene Beziehungs- und Hierarchiegeflecht in den Ozarks nicht so evident wie im später erschienen Winters Knochen. Hier wird die abgewirtschaftete Gegend auf eine Familie, eine Handvoll Freunde, ein paar Polizisten und die todkranken Opfer von Shugs Raubzügen reduziert. Plus den Außenseiter Jimmy Vin Pearce, der das Gefüge gefährlich ins Wanken bringt.
Woodrells Figurenzeichnung ist dabei wieder so knapp wie überzeugend. Er liefert keine Plattitüden, sondern Menschen, die Fleisch und Blut so nahe sind wie es Papier eben zulässt. Abgesehen von den Hauptfiguren brillieren Basil, Reds bester Freund seit Kindertagen, letztlich der einzige Mensch der sich Reds dauerhafter Zuneigung sicher sein kann, und der jüngere Bruder Carl, ein verwundeter Kriegsveteran*, zu dem Shug ein fast freundschaftliches Verhältnis hat. Bis zur düsteren Schlusspointe.
Ein Junge rennt durch abgeerntete, ehemals satt leuchtende, jetzt staubige Felder und sinkt in die Knie, einen markerschütternden Schrei ausstoßend. Die Schlusseinstellung von Philip Ridleys wunderbarem Film "Reflecting Skin" ("Schrei in der Stille"). Jener Seth ist ein enger Verwandter Shugs, ein Heranwachsender, der im Verlauf eines Sommers seine Unschuld verliert. Auf andere Art als es sich jeder Pubertierende wünscht. Er verrät das, was er am meisten liebt und zerbricht daran. Zumindest für den Augenblick. Auch Shugs Bericht endet mit einem Schrei. Innerlich. Schnell wird klar, dass das Ende ein neuer Anfang ist, und ein Dreizehnjähriger jene Rolle probt, die er in den nächsten Jahren spielen möchte. Die seines Erzeugers. Kaum Zweifel, dass er sie ausfüllen wird.
Der Tod von Sweet Mister ist ein Buch über die Tragik des abwartenden Defätismus, der es ermöglicht, dass der gewissenloseste Regent vor Ort seinen Willen durchsetzen kann. Dafür benötigt es keine Argumente, nicht mal überlegene körperliche Kraft (auch wenn es hilft). Sondern nur die reine Skrupellosigkeit. So wird man nicht geboren, sondern gemacht. Und langsam verändert sich die Sehnsucht nach Liebe zu inzestuösem Begehren. Grenzen zerfließen, kleine Jungs werden groß und möchten ihre Geschicke selbst leiten. Gefolgsleute werden in der nahen Umgebung rekrutiert. Nichts wird sich verändern, niemand wird die verfahrenen Strukturen aufbrechen. Bis Winters Knochen zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer zeigt.
Doch vorher stirbt der "Sweet Mister". Der mehr als doppeldeutige Titel bezeichnet keinen Erwachsenen, sondern ist der Kosename, den sich Glenda für ihren Sohn Shug ausgedacht hat. Ein frommer Wunsch und seine bittere Erfüllung. Daniel Woodrell benutzt nur selten plakative Stilmittel, er ist ein Meister der Auslassung, der dem Leser Raum gibt für die eigene Interpretation. Winters Knochen mag das, in bescheidenem Rahmen, optimistischere Buch sein, in dem am Ende der Reise in die kalte Nacht ein kleines Licht fahl schimmert, doch Der Tod von Sweet Mister ist die konsequentere Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die den Schrecken des eigenen Fortbestands so eindeutig wie unwissend betreibt. Ein literarischer Genuss. Außer für unseren lieben Forumsbesucher, der in Daniel Woodrells poetischem Geflecht leider verloren gegangen ist. Die Trauer hält sich in Grenzen. Ähnlich wie für den Tod von Sweet Mister.
*Der Tod von Sweet Mister ist ein wahrhaft zeitloses Buch. Beiläufig macht Daniel Woodrell bewusst, in wie viele Kriege die USA verwickelt waren und sind. Carls Bein könnte in Korea, Vietnam oder dem Irak zerfetzt worden sein. Ich tippe auf Vietnam.
Daniel Woodrell, Liebeskind
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