Ein feiner dunkler Riss
- Golkonda
- Erschienen: Januar 2012
- 7
- Berlin: Golkonda, 2012, Seiten: 276, Übersetzt: Heide Frank
- New York: Mysterious Press, 2003, Titel: 'A Fine Dark Line', Seiten: 307, Originalsprache
- Berlin: Suhrkamp, 2014, Seiten: 351
Bittersüße Lektionen über Realitäten des Lebens
13 Jahre ist Stanley jung, als die Familie Mitchel Vater Stanley, Mutter Gal und Schwester Caldonia, frühreife 16 in die kleine Stadt Dewmont im US-Staat Texas ziehen. Dort übernimmt der Senior das örtliche Autokino; ein Geschäft, das gut läuft, denn wir schreiben das Jahr 1958.
Allmählich lebt die Familie sich ein. Beim neugierigen Streifzug durch die Wälder der Umgebung stoßen Stanley Junior und Caldonia auf die Ruinen eines Hauses. Hier ging vierzehn Jahre zuvor die Villa der Stilwinds, der ersten Familie des Ortes, in Flammen auf; dabei starb die Tochter Juwel Ellen. Die Tragödie blieb der Bevölkerung auch deshalb im Gedächtnis, weil man in derselben Nacht die junge Margret Wood vergewaltigt und kopflos auf dem Bahngleis fand; der Täter wurde niemals ermittelt. Seitdem spuke Margrets Geist an der Mordstätte umher, heißt es.
Stanley findet an der Brandstätte ein Kästchen mit alten Briefen, die eine verbotene und nicht folgenlos gebliebene Liebesbeziehung zwischen Margret und James Stilwind, Juwel Ellens Bruder, dokumentieren könnten. Hat sich James Margrets durch Mord entledigt, weil sie Ansprüche stellte? Der faszinierte Stanley will sich als Detektiv versuchen. Ausgerechnet der mürrische Buster Smith, der für Vater Stanley den Filmprojektor des Kinos bedient, will ihm helfen. Der farbige Mann hat vor Jahren als Hilfspolizist gearbeitet und weiß Fachkenntnis und Lebenserfahrung gut zu kombinieren.
Das ungleiche Paar findet weitere Spuren, die Vater und Sohn Stilwell als moralisch korrupte Wüstlinge zeigen, die sich seit jeher von den Folgen ihrer Taten freikaufen. Wer ihnen in die Quere kommt, gerät in ernste Schwierigkeiten, was allerdings nicht so gefährlich wird wie ein verhängnisvoller Fehlschluss, der Amateur-Ermittler Stanley einem wahren Monster in Menschengestalt begegnen lässt &
Frieden oder Totenstille?
Die Farbigen wussten, wo sie hingehörten. Frauen wussten, wo sie hingehörten. Das amerikanische Wörtchen ´gay´ bedeutete noch schlicht und einfach ´fröhlich´. Viele Leute waren immer noch der Ansicht, dass man Kinder sehen, aber nicht hören sollte. Sonntags waren die Geschäfte geschlossen. Unsere Bombe war größer als die Bombe der anderen, und niemand konnte unsere United States Army besiegen, nicht einmal die Marsmenschen. Der Präsident der Vereinigten Staaten war ein freundlicher, großväterlicher, dicker, glatzköpfiger Mann, der gerne Golf spielte und im Krieg zu Ruhm und Ehre gelangt war. (S. 14/15)
Die beiden Jahrzehnte nach 1945 waren in den USA eine Ära offenbar unendlichen wirtschaftlichen Wachstums. Zum ersten Mal schien der amerikanische Traum tatsächlich für alle real zu werden, die sich fleißig um ihn bemühten. Vor allem in der Provinz abseits der großen Städte herrschte Ruhe im Land. Noch ließ sich allmählich unruhig werdende, weil mit den etablierten Verhältnissen zunehmend unzufriedene Gruppen übersehen oder besser: in Schach halten. Der zunehmend aus dem Ruder laufende Krieg in Korea wurde schöngeredet. Insgesamt galt, was Lansdale Stanley Mitchel in simple aber eindeutige Worte fassen lässt.
Unter der Oberfläche bot diese Epoche des Fortschritts und inneren Friedens allerdings einen unschönen Anblick. Ganze Gesellschaftsschichten blieben von den Errungenschaften der Gegenwart ausgespart; die erfolgreichen Entscheidungsträger koppelten sie einfach ab. In Dewmont, Texas, betrifft dies nicht nur die farbigen ´Mitbürger´, die seit jeher als Menschen zweiter Klasse betrachtet und be- bzw. misshandelt werden, sondern auch den "white trash", zu dem sich Stanley geworfen sieht.
Das Risiko, aus der Reihe zu tanzen
Das soziale Gefüge von Dewmont bleibt deshalb stabil, weil es mit Gewalt gewahrt wird. ´Verstöße´ werden von den Reichen und Mächtigen, die um ihre Privilegien fürchten, mit hoffentlich abschreckender Brutalität geahndet. Die vornehme Stadtprominenz kleidet sich nachts in die Kutten des Ku-Klux-Klans. Wo nicht Terror für Einschüchterung sorgt, wird geschmiert und vertuscht. 1944 starben zwei Mädchen unter Umständen, die womöglich gar nicht so mysteriös waren, wie dies die örtliche Überlieferung behauptet.
Stanley Mitchel stößt auf dieses Geheimnis, das ihn mit seinen 13 Jahren faszinieren muss. Allerdings ist Stanley nicht nur ein Neuling in Dewmont, sondern auch und buchstäblich ein Kind seiner Zeit. Er glaubt noch an ´sein´ Amerika. Auf ihn wartet deshalb in mehrfacher Hinsicht ein böses Erwachen. Ein feiner dunkler Riss ist wie so oft bei Joe Lansdale nicht ´nur´ ein Krimi, sondern auch ein "Coming-of-Age"-Roman. Stanley Mitchel betritt im Sommer 1958 die Welt der Erwachsenen. Was ohnehin eine schwierige Phase ist, wird hier sogar lebensgefährlich. Stanley muss lernen, dass nur ein feiner, dunkler Riss die Welt, die Stanley bisher kannte, von einem Abgrund trennt, in dem keine Geister oder Monster, sondern das tödliche Böse in menschlicher Gestalt lauert.
Zu den vielen positiven Aspekten dieses Romans gehört die (trügerische) Leichtigkeit, mit der Lansdale diesen Lernprozess in eine spannende Geschichte kleidet, die er zusätzlich in den historischen Hintergrund des Jahres 1958 einbettet. Die Realität dieser höchstens in der Erinnerung guten, alten Zeit erhöht die Schärfe, denn Stanley wird nicht nur von ´richtigen´ Verbrechern verfolgt. Viel härter trifft ihn die Erkenntnis, dass man die echten Ungeheuer oft nicht erkennt, weil sie sich gut getarnt in den dunklen Falten einer selbstgerechten Gesellschaft einnisten können.
In Dewmont gibt es keine Geister, die nachts nach ihren Köpfen suchen. Stattdessen treiben Negativ-Kräfte namens Rassismus, Missbrauch oder Wahnsinn ihr Unwesen. Stanley öffnet nicht nur eine Schachtel mit alten Briefen, sondern die Büchse der Pandora, deren Inhalt über ihn kommt, weil ihm und Buster Smith ein folgenschwerer Irrtum unterläuft.
Der Weg in die Wirklichkeit
Buster Smith wird Stanleys Führer auf dem Weg zur Erkenntnis. Er ist ein innerlich zerrissener Mensch, weil lebenslange Ungerechtigkeit ihre Spuren hinterlassen hat. In einer gerechten Welt wäre Smith womöglich ein Virgil Tibbs geworden; Intellekt und Stolz sind vorhanden, doch nachdem Smith einst miterleben musste, wie ein farbiger Pechvogel gelyncht wurde, hat er resigniert und hasst sich dafür. Smith ist Stanley kein einfacher Freund. Einmal bringt er den Jungen in Lebensgefahr, als er ihn in einem depressiven Anfall aus seinem Haus und direkt in die Arme des Mörders Bubba Joe jagt. Selbst dieser ist kein eindimensionaler Schurke; ihn haben die ständigen Demütigungen gebrochen und bösartig werden lassen.
Joe Lansdale versteht die Kunst, Figuren zum Leben zu erwecken, indem er Schwarz-Weiß-Zeichnung vermeidet. Vielleicht sind ihm Gal Mitchel und Rosy Mae ein wenig zu gutmenschlich geraten, aber sogar ein düsterer Roman verträgt ein wenig Optimismus, wenn die emotionale Balance gewahrt bleibt. "Ein feiner dunkler Riss" ist jederzeit im Gleichgewicht. Die scheinbaren Abschweifungen wie Stanleys Ausflüge in die Stadt, seine Streifzüge durch die Wälder der Umgebung oder die breiten Schilderungen seines Familienlebens sind tatsächlich integrale Bestandteile dieser Geschichte, die lebensnah zwischen Krimi-Geschehen und Handlung keinen Unterschied macht, sondern zwischen diesen beiden Polen beliebig wandert.
Lernen kann schmerzhaft sein
Das Ende ist natürlich nicht happy; es ist konsequent und stellt zufrieden. Offene Fragen beantwortet Lansdale wie nebenbei in einem Epilog, der schildert, was nach dem Sommer von 1958 geschah und der es in sich hat. Wie nebenbei wirft Lansdale gleich mehrere Twist-Granaten, die dem Romangeschehen noch einmal eine neue Dimension verleihen. Der älter gewordene Stanley Mitchel erkennt, dass der feine, dunkle Riss keineswegs verschwunden ist, weil er 1958 einem Gewaltverbrecher das Handwerk legen konnte. Er ist geblieben, er wird immer bleiben, denn er gehört zum Leben, wie Stanley es begriffen hat:
Buster lag nicht mit allem richtig, und manchmal waren seine Antworten etwas konfus. Aber was mich stets begleitet, worauf man sich anscheinend getrost verlassen kann, ist seine Bemerkung darüber, dass das Leben nicht immer ganz befriedigend ist, und am Ende ist Fleisch und Dreck doch alles wieder eins. (S. 275)
Die Lakonie, die in dieser Schlussbemerkung liegt, zieht sich durch das gesamte Buch. Nicht zuletzt dank einer hervorragenden Übersetzung wirkt sie nie aufdringlich. Der erinnerungsschwere und schwermütige Tenor passt zur Geschichte, die aus der Sicht eines 13-jährigen Jungen erzählt wird. Zudem wirkt Wahrheit in simplen Worten stärker. Ein feiner dunkler Riss bietet Hochspannung und echte Gefühle ohne Folterorgien und Blutkaskaden, ohne Figuren in künstlich entworfenen, homöopathisch über viele Serienbände verdünnten Beziehungskrisen.
Dargeboten wird dieser Roman zu guter Letzt nicht als Allerwelts-Taschenbuch mit Fotostock-Coversurrogat, sondern als schön gestaltetes Paperback mit Klappenbroschur. Schon optisch wirken die Bestseller von den Abkauf-Paletten deutscher Buchketten-Filialen kümmerlich gegen dieses Buch. Im inhaltlichen Vergleich wird endgültig deutlich, wieso sie zu Recht nach einem halben Jahr auf Grabbeltischen verramscht werden.
Joe R. Lansdale, Golkonda
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