Die Bestie von Sanok
- dtv
- Erschienen: Januar 2012
- 1
- Warschau: Wydawnictwo W.A.B, 2009, Titel: 'Zloty wilk', Seiten: 332, Originalsprache
- München: dtv, 2012, Seiten: 365, Übersetzt: Lisa Palmes
Kolossales Sittengemälde einer untergegangenen Welt.
Ungewöhnliche Dinge geschehen in Sanok. Der Ratsherr Antoni Skwierzński wird im Herbst des Jahres 1896 ermordet und bestialisch zugerichtet aufgefunden. Niemand weiß, was genau passiert ist, es gab Bisswunden, angeblich wurde ihm sogar das Herz herausgebissen. Wölfe? Hunde? Oder waren es sogar Werwölfe?
Sanok ist heute eine Kleinstadt mit rund 40.000 Einwohnern im äußersten Südwesten Polens, in den Waldkarpaten, ganz in der Nähe sowohl der Slowakei als auch der Ukraine. Sanok, in beiden Weltkriegen stark zerstört, wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert von Kommissar Ludwig Wittenbacher als "kleines, enges und dreckiges Nest" wahrgenommen. Damals lag es allerdings "mitten in der österreichischen Provinz". Die k.u.k. Doppelmonarchie umspannte ein Reich mit den Koordinaten Wien, Prag, Budapest, Lemberg, wozu auch die Provinz Galizien gehörte; allerdings gab es auch schon Arbeiteraufstände, Anarchistenbünde und Sozialisten. Und weit verbreiteten Aberglauben.
"Zur damaligen Zeit", klärt uns die hervorragende Übersetzerin Lisa Palmes in einer ihrer hilfreichen Anmerkungen auf, "war der Glaube an Werwölfe fester Bestandteil unter den Bewohnern der Vorkapaten, von denen die meisten wenig gebildet waren und weder lesen noch schreiben konnten."
Diese Information stammt aus einem Interview, das die Übersetzerin mit dem Autor geführt hat. Das zeigt gleich: Hier handelt es sich nicht nur um einen schon fast unfassbar gut recherchierten Roman, sondern auch um eine entsprechende Übersetzung, die wesentliche Dinge erklärt.
Kommissar Wittenbacher hat einen Mordfall zu klären, der die ganze Stadt in Aufregung hält. Wittenbacher hasst das Nest mit seinen klein- und abergläubigen Einwohnern aus ganzem Herzen:
"Wittenbacher war glühender Patriot, bei jeder Gelegenheit schielte er auf das Porträt von Franz Joseph, das bei ihm an der Wand hing. Er verehrte alles, was österreichisch war, tolerierte die Tschechen und schätzte aus Liebe zu Küche und Frauen die Ungarn, die Polen allerdings hielt er, der sich nicht mit der, wie er hoffte, nur vorübergehenden Politik der nationalen Autonomie und Selbstbestimmung anfreunden konnte, nicht für wertvolle Bürger des Kaiserreichs. Er war der Meinung, dass sie [...] ohnehin die ganze Zeit nur soffen, zankten und den nächsten Aufstand planten."
Der Kommissar, der sein Amt mit einer guten Portion Willkür ausführt, nimmt die Dienste des Arztes Zaleski in Anspruch – und der wiederum ist Dienstherr des Hauslehrers Borys Pasterniak (!), der eigentlichen Hauptfigur des Romans Die Bestie von Sanok. Borys macht im rund zwanzig Jahre zurückliegenden Prolog eine Grenzerfahrung, und offenbar glauben zumindest die Menschen, die ihn seit ihrer Kindheit kennen, an seine übersinnlichen Fähigkeiten. Hat Borys am Ende das zweite Gesicht? Kann er Katastrophen vorhersagen? Die Ursachen für diesen Glauben liegen zum Teil in Kindheitserlebnissen, die Borys mit einigen der Protagonisten teilt.
Dann passiert ein zweiter Mord, wieder trifft es einen Ratsherrn, diesmal den jüdischen Kaufmann Izaak Stezl, und schon überschlagen sich die Gerüchte im Städtchen; jetzt greift der Aberglaube auch auf die gebildeten Stände über. Jede Volksgruppe, von den Russinen bis zu den Slowaken, hat ihre eigenen Vorstellungen davon, wer hinter der Sache steckt: Sind es Geister von Toten, die nicht sachgemäß beerdigt wurden und sich beispielsweise durch ein Astloch im Sargdeckel befreien konnten? Sind am Ende sogar die Juden schuld, wie plötzlich immer mehr christlich-polnische Einwohner von Sanok vermuten?
Rychter weiß genau, wovon er erzählt: Er berichtet detailliert von Beerdigungsritualen aus Karpatendörfern, er schildert den ständig lodernden Antisemitismus und das polnische Streben nach nationaler Einheit. Er erzählt ohne zu werten, keine seiner Figuren ist klischeehaft angelegt. Gerade die historischen und kulturellen Hintergründe, die dem Autor nie zum Selbstzweck dienen, machen aus Die Bestie von Sanok so ganz nebenbei einen tollen Sittenroman. Alle Pfützen mit Pferdeurin, die Müllhalden in Hinterhöfen, die stinkenden Seitengässchen und die kärglichen Mahlzeiten der Armen dienen der grandios angelegten Stimmung, ohne die Handlung zu unterdrücken.
Bartłomiej Rychter legt etliche Pfade an: Borys unterrichtet die kränkelnde Laura, die sich mit philosophischen Fragen herumschlägt – und wird von einem ständig wiederkehrenden Traum geplagt; die jüdische Prostituierte Bimełe, zu deren Kundenkreis der zu Brutalität neigende Kommissar Wittenbacher zählt, nimmt eine Frau auf, die mehr zahlt, als sie ein besseres Zimmer in einer Herberge kosten würde; der Journalist Jan Kaszycki recherchiert offenbar auf eigene Faust; der Apotheker Ochmański, nebenbei auch Stadtrat, benimmt sich auffällig komisch – und dann taucht auch noch Besuch bei Doktor Zaleski auf: der österreichische Gelehrte Professor Hildenberg, der aus Wien neues medizinisches und psychologisches Wissen mitbringt und sich für Borys’ Traum interessiert. Und für seine Fähigkeiten:
"Fähigkeiten?"
"Es gibt Menschen, deren Fähigkeiten sich vorerst der wissenschaftlichen Erkenntnis verschließen. Das sind die Empathen – Personen, die besonders empfänglich für das sind, was andere nicht wahrnehmen, und die über große Vorstellungskraft und einen zusätzlichen Sinn verfügen. [...] Ein Bekannter aus Wien, ein Professor für Kriminalistik, hat Experimente mit übernatürlich begabten Personen durchgeführt und den Nutzen ihrer Fähigkeiten für die Aufklärung von Kriminalfällen untersucht."
Rychter erzählt wohltuend langsam, fast schon betulich, nach alter osteuropäischer Tradition – wozu auch ein Teil der deutschen Literatur zählt: Die Stimmungen, die Die Bestie von Sanok souverän verströmt, finden sich auch in Werken deutschsprachiger Autoren von E.T.A. Hoffmann bis zu Gustav Meyrink und Leo Perutz. Natürlich: Das hier ist ein historischer Roman, aber auch z.B. Meyrink bemühte sich darum, untergehende und untergegangene Welten literarisch festzuhalten. Und dort finden wir auch mythische und mystische Elemente in Hülle und Fülle. Genau in dieser Tradition steht der relativ junge Autor: Das hier ist, auch wenn Verpackung und deutscher Titel in diese Richtung weisen, kein Gothic- oder Fantasyroman. In keiner Weise.
Rychter spinnt Fäden, die er genau an den richtigen Stellen zusammenführt, die sich manchmal nur kreuzen und oft im Vagen bleiben. Mit manchen dieser Fäden führt er uns gezielt in die Irre, dabei ist er aber nie plump; nur ganz selten schrammt er leicht am Rande der Trivialität vorbei. Am Ende hat Rychter natürlich keine seiner Fährten liegenlassen und führt alles zu einem halbwegs schlüssigen, hochgradig spannenden Finale mit ein paar Überraschungen zusammen. Die Bestie von Sanok, im Original etwas weniger marktschreierisch und passender "Der goldene Wolf", ist ein exzellentes Leseerlebnis.
Der nächste Roman von Rychter, ein Krimi, der im von den Deutschen besetzten Warschau spielt, ist längst fertig. Hoffentlich kommt der auch bald auf Deutsch. Und hoffentlich wird auch dieses Buch von Lisa Palmes übersetzt.
Bartlomiej Rychter, dtv
Deine Meinung zu »Die Bestie von Sanok«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!