Atomblut

  • Econ
  • Erschienen: Januar 2012
  • 3
  • Berlin: Econ, 2012, Seiten: 352, Originalsprache
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Thomas Kürten
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2012

Strom in den Adern

Am 11. März 2011 wird Japan von einem schweren Erdbeben erschüttert. Sein Epizentrum lag vor der Küste, ca. 370 km nordöstlich von Tokyo. Ausgelöst durch das Beben trifft wenige Minuten später eine gewaltige Tsunamiwelle auf die japanische Küste. Auf das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi traf eine Tsunamiwelle mit einer Höhe von rund 17 Metern, die die 6 Kraftwerksblöcke somit um bis zu 5 Meter unter Wasser setzte. Durch die Überflutung fiel sowohl die normale Elektrizitätsversorgung als auch die Versorgung durch die vor Ort befindlichen Notstromgeneratoren aus. Somit war auch die Kühlwasserversorgung für die 3 in Betrieb befindlichen Kraftwerksblöcke nicht mehr gewährleistet. Die Bilder von den Explosionen in Fukushima gingen um die Welt. Die zweitschlimmste atomare Katastrophe  in einem Kernkraftwerk nach Tschernobyl.

Und auch in Deutschland wirkte sich diese Katastrophe aus. Die Bundesregierung beschloss kurzfristig und überraschend den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Reaktion der deutschen Energiewirtschaft: höchst unterschiedlich. Ein Konzernboss machte seinem Ärger vehement Luft, wurde dafür als Dinosaurier verspottet und erklärte frühzeitig sein Ausscheiden aus der Konzernführung per Mitte 2012. Andere reagierten verhaltener auf die Pläne der Bundesregierung, wussten die milliardenhohen Abschreibungen als Vorwand für überfällige, tiefschneidende Restrukturierungen zu nutzen. Die deutsche Energiebranche befindet sich mitten in einem entscheidenden, politisch gewollten und wirtschaftlich fragwürdigem Umbruch, denn in Nachbar- und Partnerstaaten wird der Ausbau der Kernenergie weiter gefördert.

Eine Johanna von Orleans für die Energiewirtschaft

Atomblut spielt in der Zeit unmittelbar nach der Katastrophe von Fukushima. Bei dem großen deutschen Energie Ruhrstrom sterben auf tragische Weise der Vorstandsvorsitzende (Autounfall) und der Aufsichtsratschef (Herzinfarkt). Justus Kohlmeier, ehemaliger Vorstandschef, Lenker und Gestalter, übernimmt kurzerhand das Ruder im Aufsichtsrat und stellt mit Fabienne Felsenstein eine junge, aber international erfahrene Managerin an die Vorstandsspitze. Sein Kalkül: die kann er lenken und manipulieren.

Die Berufung Felsensteins verwundert viele. So ist auch die Presse ausgesprochen kritisch, zumal Felsenstein gegenüber Interviewanfragen äußerst zurückhaltend reagiert. Der Weltkurier startet in seinem "Kaspar-Hauser-Blog" eine Felsenstein-Watch. Jeder der die Managerin sieht, soll hier berichten, was sie gerade macht. So entwickelt sich im Internet eine Jagd auf die Frau, die zusehends auch zu einer realen Bedrohung ihrer Gesundheit ausartet. So wird sie auf dem Weg ins Büro in ihrem Dienstwagen Opfer einer Farbbeutelattacke. Aber Fabienne ist einiges gewohnt, auf den Philippinen wurde sie bereits einmal entführt, in Griechenland wurde auf sie geschossen.

Doch da sie sich voller Elan auf ihre Arbeit stürzt, kann sie diese Bedrohungen ausblenden. Und im Konzern gibt es genug zu tun. Gegen den politischen Willen der Bundesregierung gilt es sich zu positionieren und hausintern das eigene Profil zu schärfen. Fabienne bewegt sich dabei, wie es von einem 37-jährigen Frischling auf diesem Gebiet erwartet werden darf. Forsch, frech und selbstbewusst, bleibt sie dabei ihrer Linie treu, sucht nach einem ökonomisch und ökologisch nachhaltigen Energiekonzept, wohl wissend, dass der sofortige Atomausstieg wirtschaftspolitisches Harakiri ist. Aber auf dem Berliner Parket ist sie die edle Ritterin, die es wagt, in einer rundum vorgeplanten "Debatte" mit der Kanzlerin (die Presseerklärung ist schon vor dem Gespräch fertig) das Wort zu erheben. "Frau Felsenstein, sie sind neu hier in der Runde" wird sie dafür von der Staatschefin persönlich zurechtgewiesen. Aber so hinterlässt sie Eindruck.

Eine Katastrophe als Ausweg

Lange ahnt man nicht, wohin Utz Claassen mit seinem Debütroman steuern will. Sind die Vorgänger von Felsenstein und Kohlmeier vielleicht doch keines natürlichen Todes gestorben? Wer verfolgt die neue Lenkerin bei der Ruhrstrom AG? Welche Rolle spielt der zwielichtige Boulevardjournalist Wallter, der mit Felsensteins Assistentin anbändelt? Was richtet die Verfolgungsjagd der Felsenstein-Watch an?

Erst im Schlussdrittel, als Claassen sich unverhohlen der Argumentation der deutschen politischen Eliten mit einem möglichen Katastrophenszenario (Absturz eines Flugzeugs auf ein AKW) für den Ausstieg aus der Kernenergie bedient und auf diese Weise einen Flüssiggastanker explodieren lässt, erst da wird erkennbar, wo sich der wahre Thriller abspielt. Auf einmal erscheint die Alternative, mit der die Abschaltung der Kernenergie in Deutschland aufgefangen werden soll, ebenso riskant und zerstörerisch. Da wird klar, dass es nicht um Nachhaltigkeit und Rationalität in den Entscheidungen von Wirtschaft und Politik geht, sondern einzig und allein um Geld und Macht.

Hier blüht der Autor erst so richtig auf, hier ist er in seinem Metier. Atomblut entwickelt sich zu einem echten wirtschaftlichen und politischen Knaller. Schwächen, die der Roman ohne Zweifel hat (z.B. klischeehafte Charaktere, ein erst spät erkennbarer "roter Faden") kann Claassen dadurch erfolgreich überdecken.

Utz Claassen ist selber Manager, war den Vorständen von EnBW und Solar Millenium. Bei letzterem Unternehmen stieg er jedoch schon nach nur zweieinhalb Monaten wieder aus. Er sah sich vom Aufsichtsrat getäuscht, das juristische Nachspiel läuft. Claassen kennt die Spielweisen in den Machtetagen der Republik. Sein Thriller wirkt in einem höchsten Grade authentisch, wenn es um Verhandlungen, Präsentationen und wirtschaftliche Planspiele geht

Atomblut

Utz Claassen, Econ

Atomblut

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