Finsterau

  • Hoffmann & Campe
  • Erschienen: Januar 2012
  • 4
  • Hamburg: Hoffmann & Campe, 2012
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Dieter Paul Rudolph
78°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2012

Zwei Rezensionen für einen kurzen Text

Auch der vierte Roman von Andrea Maria Schenkel ist ein überschaubares Werk. 125 Seiten, diesmal, da in einem anderen und größeren Verlag erschienen, vornehm gebunden, so etwas lieben Rezensenten. Überhaupt: Schon der Titel Finsterau legt nahe, dass man vielleicht die alte Tannöd-Rezension noch einmal hervorkramen und ausschlachten könnte... Finsterau nämlich, das klingt nach Tannöd reloaded, wieder geht es um einen authentischen Fall, um einen brutalen Mord in einem bayrischen Weiler, wieder um Provinzialität, Engstirnigkeit, wieder ist der Text mit Dialektausdrücken durchsetzt. Aber die Vorfreude des Rezensenten ist verfrüht. Mit einer kleinen, schnellen Besprechung ist es nicht getan. Eigentlich muss man das Werklein zweimal besprechen, den Text, so wie er da steht, und den Text, der NICHT da steht, was seine Gründe hat.

Erste Rezension

1947. Die junge Afra lebt mit ihrem unehelichen kleinen Sohn wieder bei den Eltern in Finsterau. Der Krieg ist vorbei, das Elend noch lange nicht, bei den Kleinbauern hat es sich sowieso als Normalzustand etabliert. Der Vater von Afras Kind, ein französischer Kriegsgefangener, hat sich in den Wirren der Nachkriegszeit in Luft aufgelöst, mit ihrem eigenen Vater kommt Afra nicht klar, er macht ihr Vorwürfe, sie streiten sich. Dann werden Afra und ihr Sohn erschlagen aufgefunden. Der Vater benimmt sich merkwürdig, man verhaftet ihn, er gesteht die Tat, widerruft später sein Geständnis, doch das hilft ihm nichts. Er wird verurteilt. Erst Jahre später gibt es eine neue Spur, die zur Wahrheit führt.

Schenkel erzählt die Geschichte in ihrer bekannten Montageart aus Rückblenden und Zeugenaussagen. Das ist souverän gemacht, noch souveräner als in Tannöd seinerzeit. Vieles wird angedeutet, gestreift, die Bigotterie der Menschen, die Ignoranz der Behörden, die zu einem veritablen Justizirrtum führt. Die eigentliche Hauptperson ist indes nicht Afra, sondern ihr Vater. Der, ein gläubiger Christ, hatte es gewagt, dem nazilobenden Pfarrer während der Messe öffentlich zu widersprechen, Gestapohaft und Folter waren die Folgen, seitdem schweigt der Vater. Ein seltsamer, verquerer Mensch also, den Schenkel knapp, aber beeindrucken skizziert, gerade genug an Umrissen, um die Gedanken der Leser zu stimulieren.

Doch, Finsterau ist ein gelungenes Stück Kriminalliteratur, das nicht nur wegen seiner handwerklichen Qualitäten aus der Masse der Konfektionsware herausragt. So könnte die Autorin jetzt weiterschreiben, jahrelang, immer neue Varianten, ähnlich klingende Titel werden ihr bestimmt einfallen. Nebenbei: Wirklich "spannend" ist Finsterau so wenig wie es Tannöd war. Psychologisch, abgesehen von der Geschichte des Vaters, auch eher dürftig. Es lebt von der knappen Dramaturgie – und davon lebt es nicht schlecht.

Zweite Rezension

Und genau hier liegt das Problem. Finsterau ist ein Abnickbuch, ein paar erbauliche Lektürestunden, ein thematischer und stilistischer Rückgriff auf Tannöd, jenen Monstererfolg, den Schenkel mit Kalteis in etwas überschaubareren Dimensionen, aber durchaus erfolgreich fortsetzte – und mit Bunker verspielte. Denn Bunker ist anders, sperriger, irritierender, aus der Jetztzeit, vollständige Fiktion, so gar nicht der nette, etwas außergewöhnliche historische True Crime mit Folkloreanstrich. Die Quitting hat die Autorin auch umgehend bekommen. Bunker wurde in Bausch und Bogen verrissen, zu Unrecht, wie der Rezensent öffentlich behauptet hat. Nun steht es mir nicht zu, die Entscheidung der Autorin, den Pfad des Neuen und Risikoreichen zu verlassen, zu kritisieren. Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Aber bedauerlich ist es schon. Er fühlt sich etwas zu sehr tanngeödet von Finsterau, bei allen Qualitäten, die das Buch zweifelsfrei aufzuweisen hat. Jeder Schritt ist vorhersehbar, löst automatische Assoziationen aus, passt vollständig in den Kanon jener "kritischen Heimatliteratur", die seit etlichen Jahren via Buch, Film und Fernsehen über uns kommt. Kriminalliteratur mit Netz und doppeltem Boden, nahe daran, zu bloßem Krimikunsthandwerk zu werden.

Andrea Maria Schenkel, die nach Meinung des Rezensenten zu den auch formal interessantesten deutschen KrimiautorInnen der Gegenwart zählt, hat den mit Bunker begonnenen, dornenreichen Weg verlassen und schreibt wieder auf der breiten Autobahn des Genres. Das mag ihren Verlag freuen, dem an den stilistischen und formalen Experimenten von Bunker schon aus Gründen des Abverkaufs nicht viel gelegen haben dürfte. Es mag auch Andrea Maria Schenkel freuen, die sich mit Finsterau vielleicht dem Vorwurf des künstlerischen Rückschritts aussetzt, sich aber all die gehässigen Kommentare erspart, die sie bei Bunker geerntet hat. Wer an Fortschritten innerhalb der deutschen Kriminalliteratur interessiert ist, dürfte sich hingegen über Finsterau nicht freuen. Unter diesem Buch ruht ein anderer, ungeschriebener Text, ein Text, der ein Wagnis gewesen wäre.

Andererseits: Texte, die es nicht gibt, kann man nicht beurteilen. Man kann ihnen nur nachtrauern. Auch wenn man Finsterau durchaus gerne gelesen – und dann ohne große Emotion weggelegt hat.

Finsterau

Andrea Maria Schenkel, Hoffmann & Campe

Finsterau

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