Verblendet
- Droemer Knaur
- Erschienen: Januar 2012
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- New York: William Morrow, 2007, Titel: 'Nerve damage', Seiten: 304, Originalsprache
- München: Droemer Knaur, 2012, Seiten: 432, Übersetzt: Frauke Czwikla
Schlimmes unter den Trümmern deiner Welt
Bildhauer Roy Valois lebt und arbeitet abgeschieden aber inzwischen berühmt und wohlhabend geworden in Ethan Valley, einem Städtchen im US-Staat Vermont. Als bei ihm eine fortgeschrittene Lungenkrebserkrankung festgestellt wird, beginnt Valois sein Leben neu zu ordnen. Außerdem plagt ihn die Neugier: Wie wird die Nachwelt über ihn denken? Mit ein wenig Unterstützung bricht er in die Datenbank einer großen Zeitung ein, um seinen eigenen Nachruf zu lesen, der dort für den Fall der Fälle auf seinen Abruf wartet.
Valois ist zufrieden, doch ein Fehler stört ihn: Delia, seine immer noch geliebte, vor 15 Jahren bei einem Helikopter-Absturz in Venezuela umgekommene Gattin, habe nicht für die Vereinten Nationen, sondern für das private Hobbs-Institut als Beraterin gearbeitet, informiert er Jack Gold, den Reporter, der den Nachruf verfasste. Gold verspricht nachzuforschen. Wenig später wird er überfallen, ermordet und seiner Unterlagen beraubt.
Im Rahmen einer experimentellen Therapie reist Valois nach Baltimore. Zwischen den Behandlungen sucht er in Washington nach Spuren. Dort will man allerdings von einem Hobbes-Institut niemals gehört haben. Als Valois zufällig Tom Parish, Delias Chef, ausfindig machen kann, leugnet dieser jede Bekanntschaft ab und taucht unter. Da Valois mit Beweisen nicht dienen kann, glaubt ihm die Polizei seine Geschichte nicht.
Frustriert kehrt Valois nach Ethan Valley zurück. Dort muss er feststellen, dass jemand sich Einlass in sein Haus verschafft und es durchsucht hat; eine Skizze des Hobbs-Instituts ist verschwunden. Kurz darauf meldet sich der Geschäftstycoon Calvin Truesdale bei Valois. Der als Kunstsammler bekannte Milliardär interessiert sich angeblich für eine von seinen Arbeiten. Doch Valois ist im Besitz eines alten Fotos, dass Truesdale zusammen mit Parish zeigt …
Mit dem Rücken zur brüchigen Wand
Der Durchschnittsmensch in einer Ausnahmesituation ist die perfekte Identifikationsfigur für diejenigen Leser, die gern davon träumen, dass ein Abenteuer Abwechslung in ihren Alltag bringt, ohne die damit verbundenen Risiken eingehen zu müssen. Der Plot sorgt für den doppelten "Suspense"-Faktor, geht es doch nicht nur um die spannende Frage, ob der unerfahrene ´Held´ entkommt, sondern auch und vor allem, wie ihm, der in Sachen Täuschung und Gewalt weder ausgebildet ist noch über entsprechende Erfahrungen verfügt, dies gelingt.
Peter Abrahams verschärft die Krise, indem er eine Hauptfigur präsentiert, die an zwei tödlichen Fronten kämpft. Roy Valois ist nicht nur einer Verschwörer-Gruppe auf die Spur geraten, die ihn gern aus dem Weg geräumt sähe. Ihm sitzt ohnehin Gevatter Tod im Nacken bzw. im Brustkorb, wo dieser – gern in sowieso gefährlichen Situationen – die asbestkrebsbefallenen Lungen zwischen seinen Knochenfingern walkt, sodass dem armen Valois buchstäblich die Luft dort wegbleibt, wo es lebenswichtig wäre zu handeln.
Verblendet ist als Roman eine vollständige Sammlung sämtlicher Wendungen bzw. Klischees, die das "Allein-gegen-alle"-Genre hervorgebracht hat. Deshalb erstaunt es besonders, wie gut sich Abrahams ihrer bedient hat: "Verblendet" ist eine wunderbare, d. h. spannende, rasante, und wendungsreiche Verfolgungsjagd, die darüber hinaus einen wichtigen Faktor vorbildlich berücksichtigt: Wir Leser bangen um die Hauptfigur. Der Verfasser musste sie uns dafür ans Herz legen. Roy Valois ist weder ein sentimentaler noch ein herausragend sympathischer Mann. Trotzdem WOLLEN wir, dass er obsiegt: gegen seine unsichtbaren Feinde und gegen den Krebs.
Wo kann ich mich verstecken?
Abrahams ist als Erzähler ein Profi, der auf eine mehrere Jahrzehnte währende Schriftstellerkarriere zurückblicken kann. Wo andere Autoren allmählich auslaugen, ist er gereift. Verblendet beweist, dass der Autor genau weiß, wie man eine solche Geschichte (beinahe) über die volle Distanz bringt. Dies bedeutet in erster Linie eine Variation des Bekannten, das neu arrangiert sichtlich den bewährten Unterhaltung-Sog ausüben kann.
Zur Spannung kommt mehr als ein Quäntchen Paranoia. In der multimedialen Welt des 21. Jahrhunderts muss sich Mr. Jedermann besonders hilflos und ausgespäht vorkommen. Die technischen Mittel, die Valois gestatten, die Spur des Gegners aufzunehmen, stehen auch diesem zur Verfügung, um den neugierigen Schnüffler ausfindig zu machen. Das Internet entwickelt sich dank des Erfindungsgeistes eines geschickten Verfassers zur Höllengrube. Für die Zündung sorgt die unschuldige Neugier eines kranken Mannes, der nur seinen Nachruf lesen wollte.
Längst zum zweiten Teufelswerkzeug ist im modernen Thriller das Handy geworden, weil es eher der verräterischen Ortung als der Kommunikation dient. Gemeinsam sorgt die geballte Hightech für einen dem Verfasser nützlichen Effekt: Irgendwann erkennt der flüchtige Held, dass er sich nur verstecken kann, wenn er sich ihrer entledigt. Damit kann das gute, alte Katz-und-Maus-Spiel wieder beginnen; in unserem Fall bedeutet dies, dass sich Roy Valois von verlässlichen Freunden zum Finalkampf autofahren lässt.
Wem kann ich trauen?
Die Antwort muss in einem guten Thriller selbstverständlich lauten: Niemandem! Es ist Teil der Spannung, dass sich Roy Valois´ menschliches Umfeld in ein gesichtsloses Heer potenzieller Feinde verwandelt. Die meisten seiner Freunde sind und bleiben Freunde, doch Abrahams kreiert und schürt eine Atmosphäre, in der jedes Wort, jede Handlung eine unterschwellige und bedrohliche Zweitbedeutung gewinnt. Valois nimmt Menschen, die er seit Jahrzehnten kennt bzw. zu kennen glaubt, unter die Lupe und meint plötzlich Fremde zu sehen.
Vertrackterweise geht sein Misstrauen nicht tief genug oder besser gesagt: in die falsche Richtung. Hierin wird abermals die verständliche Ratlosigkeit eines Menschen deutlich, der im postulierten Sumpf korrupter Politiker, selbstherrlicher Konzern-Könige und unkontrollierbarer Geheimdienstlern umherirrt und unterzugehen droht. Der Feind hat dieses Problem nicht und ist Valois deshalb immer einen Schritt voraus.
Was zu der Frage führt, wieso ausgerechnet ein todkranker Bildhauer seinen zudem schwer bewaffneten Verfolgern nicht nur immer wieder ein Schnippchen, sondern ihnen auch die Schädel einschlagen kann. Dies ist eine typische Schwachstelle solcher Thriller: Das Opfer muss über sich hinauswachsen und dabei auch sich selbst unbekannte Kräfte entwickeln; für den Rest sorgt der Faktor "Gerechtigkeit", eine romantische Vorstellung, der auch Abrahams sich nicht entziehen kann: Roy Valois zerschlägt den gordischen Knoten, weil er im Recht ist. Allerdings muss man dem Verfasser zugestehen, dass es der Leserschaft sicherlich nicht recht wäre, würden Valois und dieser Roman realistisch etwa auf Seite 100 durch eine gut gezielte Schurkenkugel ausklingen.
Was ist eigentlich geschehen?
Das in festen Bahnen laufende und ruhige Leben des Roy Valois verwandelt sich in Treibsand – ein Vorgang, den Abrahams mit großem Geschick und fast sadistisch als Kettenreaktion zu schildern weiß. Nicht einmal auf seine Erinnerungen kann Valois sich berufen, denn diese sind falsch. Zu Krankheit und Todesgefahr kommt die Erkenntnis, ausgerechnet von der geliebten Frau, nach der Valois sich seit 15 Jahren in Trauer verzehrt, belogen worden zu sein.
Aus dieser Not muss Valois eine typische Thriller-Tugend machen und sich neue Verbündete suchen. Denen kann er – wahrscheinlich – zwar trauen, hat sich jedoch damit abzufinden, dass sie auch keine Profis in Sachen Lug & Trug sind, weshalb gut gemeinte aber schlecht durchdachte Pläne die Lage für den Helden noch brenzliger gestalten.
Aber auch in diesem Punkt meint es das kosmische Schicksal im trauten Bund mit dem vielbeschäftigten Zufall gut mit Valois: Im Alleingang rollt er die dunkle Vergangenheit des Hobbs-Instituts und seiner Betreiber auf, die selbstverständlich immer noch im Untergrund tücken. Bis zum Oberschurken muss er sich dabei durch ein Feld immer gefährlicherer Schergen schlagen, wobei Autor Abrahams hin und wieder keinen echten Rat weiß und beispielsweise ein aufgeregtes Pferd mit harten Hufen eine lebensgefährliche Situation klären lässt.
Wie soll das enden?
Die vor allem auf Dauer wenig überzeugenden Stehaufmännchen-Qualitäten des Roy Valois wurden bereits negativ angemerkt. Dieser Schwachpunkt artet leider ausgerechnet im Finale zum Logikloch aus. Abrahams scheinen schließlich die Ideen ausgegangen zu sein. Was sonst könnte eine Erklärung für die peinlich primitive Weise sein, auf die sich Valois Zugang zum Stützpunkt des bösen Drahtziehers verschafft, der doch über ein Heer bestens ausgebildeter Leibwächter gebietet, wie Abrahams nie müde wurde uns vor Augen zu führen? Innen wird er nicht etwa sofort geschnappt, sondern kann sich frank & frei bewegen und binnen weniger Minuten nicht nur die letzten Rätsel lösen, sondern auch eine entlarvende Botschaft finden, nach der sein Widersacher – auf dem eigenen Grundstück! – seit anderthalb Jahrzehnten vergeblich gesucht hat.
Dass alles in einem simplen Faustkampf zwischen Gut & Böse gipfelt, könnte dieser Geschichte den Rest geben. Aber in letzter Sekunde, mit den letzten Zeilen besinnt sich Abrahams eines Besseren. Die große Verschwörung wird aufgedeckt, aber ein Happy-End für Roy Valois wird es wohl nicht geben. Es wäre in der Tat ein wenig zu viel jener naiven Gerechtigkeit gewesen, über die man im Geiste stets das Sternenbanner im Wind knattern hört. So aber überwiegt die positive Erinnerung an einen Roman, dessen Pageturner-Qualitäten nicht von der Werbung behauptet, sondern von einem talentierten Autoren verwirklicht wurden, und der es daher nicht verdient, in einem Meer ähnlich lieblos gestalteter aber tatsächlich langweiliger Verbrauchs-Taschenbücher unterzugehen.
Peter Abrahams, Droemer Knaur
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