Die Nacht des Zorns

  • Lübbe Audio
  • Erschienen: Januar 2012
  • 14
  • Paris: V. Hamy, 2011, Titel: 'L'Armée furieuse', Seiten: 426, Originalsprache
  • Köln: Lübbe Audio, 2012, Seiten: 6, Übersetzt: Volker Lechtenbrink
Die Nacht des Zorns
Die Nacht des Zorns
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Dieter Paul Rudolph
93°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2012

Zuckerpapiere

Auf die kleinen Dinge kommt es an, im Leben wie in der Literatur. Auf Brotkrümel, Tauben, denen man die Beine zusammengebunden hat, falsch geschnürte Turnschuhe, kleine Zuckerbriefchen, auf die vor allem. Die sind wie Nadeln in einem Heuhaufen, sie liegen versteckt in all dem Wichtigen, dem Gehypten, den großen Themen eben. Aber nun ... Nadeln in Heuhaufen zu finden, das ist gar nicht so schwer, weiß der komische Polizist Jean-Baptiste Adamsberg:

 

"Es reichte, das Heu zu verbrennen, dann hatte man die Nadel."

 

Und so ermittelt er auch, zum wiederholten Male in einem Roman von Fred Vargas, er bleibt sich treu und wir bleiben auch nach der Lektüre von Die Nacht des Zorns Vargas und ihrem Kommissar treu, das steht fest.

Aber kommen wir zunächst zu den großen Dingen. Die sind nicht nur groß, die sind gigantisch und mystisch. Im normannischen Dorf Ordebec hat Lina Vendermot in einem halluzinatorischen Anfall das "Wütende Heer" gesehen, einen seit 1000 Jahren durch den Wald jagenden Reitertrupp verstümmelter Gestalten, die sogenannte "Ergriffene" mit sich führen, böse Menschen, Todgeweihte. Diesmal sind es vier, drei hat die Frau erkannt, einer davon ist bereits verschwunden. Eine irre Geschichte, finsterster Aberglaube, also genau das Richtige für Adamsberg, als er davon erfährt. Er fährt nach Ordebec, lernt auf einem Waldweg, den das "Wütende Heer" bevorzugt frequentiert, die alte Léo kennen, die soeben die Leiche des Verschwundenen gefunden hat. Schon ist der Fall real. Jemand macht sich die Gespenstergeschichte zunutze, um Richter zu spielen und Bösewichte zu exekutieren.

Was nun folgt, ist im Großen und Ganzen absehbar: Von den "Ergriffenen" beißt einer nach dem anderen ins Gras, die hellseherische Frau (sie hat drei reichlich seltsame Brüder) gibt Rätsel auf, zudem ist der Fall mit dem "Wütenden Heer" nicht der einzige, der Adamsberg beschäftigt. Ein Großindustrieller ist in seiner Luxuslimousine abgefackelt worden, ein junger Sündenbock schnell gefunden, dem aber Adamsberg kurzentschlossen zur Flucht verhilft, damit er die wahren Mörder überführen kann. Dann wäre da noch die Sache mit der Taube, der man die Füße zusammengebunden hat... ach ja, und der Fall mit der alten Frau, die an Brot erstickt ist, aber eigentlich ist das geklärt... Typisch Fred Vargas also, mythisch, verspielt, bizarr, so wie Adamsberg und sein Team, allesamt Menschen mit außergewöhnlichen Eigenschaften, Versehrte, kann man sagen, nicht von dieser Welt und doch die einzigen, die uns die normale Welt erklären können. Wenn auch anders als wir erwarten.

Es ist, nach dem inzwischen achten Band mit dem Protagonisten Adamsberg, ziemlich müßig, auf die speziellen Qualitäten dieses Helden hinzuweisen. Adamsberg ist ein "Wolkenschaufler", was immer man sich auch darunter vorstellen mag, ein Mensch, der mit einer anderen Logik als andere vorgeht, kein schneller präziser Denker, eher das Gegenteil. Zum Ende von Die Nacht des Zorns Adamsberg hat den Fall scheinbar gelöst, allerdings plagen ihn berechtigte Zweifel beschreibt Vargas, wie der Kommissar vorzugehen pflegt:

 

"... er warf die vernünftigen Sachen weg und machte sich danach an die Untersuchung der unbrauchbaren Teile seines persönlichen Haufens".

 

Genau darauf muss sich die Leserin, der Leser bei Vargas einlassen. Analysiert man etwa Die Nacht des Zorns nach den überkommenen Gesetzen des Genres, entdeckt man einen Krimi vom Whodunit-Typ, der wie jeder seiner Art zu funktionieren scheint. Ein Serienmörder treibt sein Unwesen, es tauchen nach und nach Verdächtige auf, Fallen werden gestellt, Morde können nicht verhindert werden, ein bisschen Privatleben und Eigenheiten der agierenden Ermittlerpersonen und am Ende eine mehr oder weniger wasserdichte Beweisführung, die zur Täterentlarvung führt. Letztere ist bei Vargas im Allgemeinen und bei Die Nacht des Zorns im Besonderen eher weniger wasserdicht. Ein paar Zuckertütchen sind es, die Adamsberg inneres Lämpchen zum Leuchten bringen und das Dunkel lichten. Diese Zuckertütchen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch, man ahnt schnell, dass es eine besondere Bewandtnis mit ihnen haben muss, ebenso mit Adamsbergs Angewohnheit, sich keine Namen von Lokalen und so weiter merken zu können, oder bei Gesprächen notorisch falsche Bezüge herzustellen. Als "Normalkrimi", nein, korrekter: Als von einer "Normalautorin" verfasster Krimi wäre Die Nacht des Zorns bestenfalls eine Dutzendarbeit.

Aber Fred Vargas ist keine Normalautorin, weil ihr Adamsberg, ja, weil keine der handelnden Personen ein Normalmensch ist. Man nennt ihre Art zu schreiben gerne "magischen Realismus", ein Etikett, unter dem man sich nichts und alles vorstellen kann, wie das nun einmal bei Etiketten so üblich ist. Die Nacht des Zorns erklärt den Begriff aber vielleicht noch besser als die Vorgängerromane und zwar durch die Art, wie Adamsberg und die anderen Figuren des Romans mit den Rationalitäten und den Irrationalitäten umgehen. Der Kommissar nimmt den alten Mythos um das "Wütende Heer" stets ernst, er macht sich nicht lustig darüber und glaubt dennoch keinen Moment daran. Beides gehört zur Wirklichkeit, so wie all die traumatisierten Menschen, die in diesem Roman auftauchen, zur Wirklichkeit gehören und daher "normal" sind. Für die Leser bedeutet das schlicht: Sie sind ständig irritiert, beginnen ihrer Logik zu misstrauen und entwickeln, bestenfalls, eine besondere Toleranz für all die Abseitigkeiten, die in diesem Buch auftauchen. Die Romane sind folglich eine Erweiterung der Grenzen von Wirklichkeit und der Schlussfolgerungen, die wir aus ihnen ziehen.

Genau dieser Effekt ist es, der Kriminalliteratur legitimiert. Die Bücher von Fred Vargas als "mehr als Krimi" zu apostrophieren, wäre also grundverkehrt. Sie sind, gerade weil sie so anders daher kommen als die üblichen Serienkiller- und Ermittlernichtigkeiten, die wahren Kriminalromane. Spannend, verwirrend, vor allem in den Details reich an Bedenkenswertem, originell sowieso. Kleine Zuckerpapierchen.

PS1: Ach ja, die Geschichte mit den Brotkrümeln. Gleich zu Beginn des Romans überführt Adamsberg einen jahrelang von seiner Frau reglementierten Ehemann des Mordes an seiner Gattin. Er hat sie mit Brotteig erstickt, eine Krümelspur verrät ihn. Der Mann, ein begeisterter Kreuzworträtsler, Vertreter der faktischen Logik, ist also durch einen Vertreter der verqueren Denkungsart überführt worden. Aber der Mörder gibt nicht auf. Er wird plädieren, seine kranke Frau aus Mitleid getötet zu haben. Wieder ein Sieg der Kreuzworträtsel-Krimi-Logik über die viel komplexere des Kommissars. In Ordnung, sagt Adamsberg. Das werde ihm aber auch nichts nützen, seine Verhaltensweisen würden die gleichen bleiben wie unter der Knute seiner Frau. Abermals hat Adamsbergs absonderliche Logik die Oberhand behalten. Am Ende des Romans erfahren wir, dass der Mann im Gefängnis bereits Kreuzworträtselturniere organisiert und sich pudelwohl fühlt. Beide, der Vertreter der nüchternen Logik und der des labyrinthischen Denkens, hatten also Recht. Der Mörder bleibt auf ewig ein Gefangener, aber er fühlt sich wohl dabei, seine Rechnung ist aufgegangen, obwohl sie nicht aufgegangen ist. Auch in dieser Nebenszene also stehen das Nüchterne und das Adamsbergisch Phantastische versöhnt nebeneinander.

PS2: Wer Fred Vargas schon einmal im Original gelesen hat, wird bestätigen können, dass Waltraud Schwarze gute Übersetzerinnenarbeit zu bescheinigen ist. Sie bringt das Eigentümliche von Vargas' Stil, der wiederum eine Mischung aus Nüchternheit und Verspieltheit ist, sehr schön ins Deutsche.

Die Nacht des Zorns

Fred Vargas, Lübbe Audio

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