Kalte Fluten
- Emons
- Erschienen: Januar 2011
- 2
- Köln: Emons, 2011, Seiten: 285, Originalsprache
Langer Anlauf zum furiosen Finale
Ein Mensch wird lebendig begraben, muss elendig verrecken – im Prolog geht es hart zur Sache. Doch bis die Leiche gefunden wird, und der Leser erfährt, was es damit auf sich hat, wird zunächst das schwierige Leben des Rostocker Ermittlers Wolfgang Franke und seiner Kollegin Wiebke Sollich geschildert. Der Bayer Franke hat familiäre Probleme, weil er sich aus Karriere-Gründen nach der Wende an die Ostsee versetzen ließ. Seine Familie hat den Ortswechsel nie verdaut, die Tochter ist dadurch sogar in eine "Drogen-Karriere" geschlittert. Als ihre Leiche in einem Zug von Amsterdam noch Rostock gefunden wird, bricht für Franke eine Welt zusammen. Er ist von Rache-Gedanken beseelt, und gerät dadurch schnell selbst in Verdacht, zum Mörder geworden zu sein. Selbst seine ihm für zurückliegende Hilfe dankbare Kollegin Wiebke beginnt an Franke zu zweifeln – und gerät dann ihrerseits in das Visier des Serienmörders.
Der gelungene Prolog deutet an, worum es in dem Erstlingswerk von Ralph Westerhoff geht. Danach nimmt sich der Autor allerdings einige Seiten Zeit, um sein Szenario zu entwickeln. Vor allem werden in großer Ausführlichkeit die vielschichtigen Charaktere vorgestellt. Es handelt sich um durchaus interessante Persönlichkeiten mit sehr unterschiedlichen Lebensläufen. Da ist Wolfgang Franke, einst ehrgeizig und voller Tatendrang. Jetzt muss er geradezu hilflos zusehen, wie seine Tochter mit großen Schritten dem Abgrund entgegen geht. Das Ende seiner Ehe und der Tod der Tochter treiben ihn endgültig in die Alkoholsucht. Die späte Einsicht in seine Fehler macht ihn sympathisch – man leidet als Leser zeitweise mit.
Wiebke Sollich geht es eher ausgezeichnet, auch wenn sie zuweilen Zweifel an ihrem neuen Liebesglück hat. Sie ist der Typ der beruflichen Aufsteigerin, hat hart dafür gearbeitet, und will nun auch privat erfolgreich sein. Sie führt häufiger imaginäre Gespräche mit ihrer Mutter, hat reichlich feuchte Träume, in denen nicht nur ihr Freund vorkommt – und ist stets eine loyale Polizistin aus Überzeugung. Die beiden höchst unterschiedlichen Ermittler üben mit ihren so verschiedenen Lebensläufen eine eigentümliche Faszination auf den Leser aus.
Insgesamt ist das Buch eine Ansammlung merkwürdiger Charaktere. Denn eine weitere Hauptperson ist Wiebkes Freund Thomas. Der Psychologe wirbt nach alter Schule um die Polizistin. Es gibt Rosen-Sträuße mit Kärtchen, romantische Einladungen zum Essen. Allerdings hat der Psycho-Doktor auch ein paar reelle Macken. Er hat einen absoluten Putz- und Hygiene-Fimmel. Wenn auf seinem Wohnzimmertisch gekrümelt wird holt er sofort den Handstaubsauger, wird richtig gekleckert, ist sofort die Sprühflasche mit Reiniger zur Hand. Und der gute Junge ist völlig verklemmt – sehr zu Wiebkes Leidwesen. Sex findet nur im Dunkeln und in höchst konventionellen Bahnen statt. Wirklich amüsanten Passagen, allerdings zu ausgedehnt und zuweilen unpassend.
Staatsanwalt Günter ist der vierte im Bunde. Er hat einige sexuelle Vorlieben, die er seinen Freunden und der Öffentlichkeit lieber verheimlicht – regelmäßige Besuche im Swinger-Club machen sich für einen Staatsanwalt nicht so gut. Im späteren Verlauf der Geschichte spielt er noch eine wichtige Rolle – und ist in einer kleinen Nebenhandlung sogar der Hauptdarsteller. Eine durchaus gelungene Figur, die manche Schwächen bei der Darstellung der beiden Ermittler durchaus überdeckt.
Bei allen Schwächen im Aufbau der Geschichte präsentiert Ralph Westerhoff in seinem Roman einige Menschen mit richtigen Ecken und Kanten, die noch nicht stromlinienförmig durch das Leben laufen. Allesamt haben die Protagonisten kein typisches Privatleben, sondern alle ihre Eigenheiten, die auch jenseits des Kriminalfalls interessant sind.
Die Mordserie wird allerdings etwas spät als solche erkennbar, der Umschlagtext des Buches irritiert gewaltig, da er falsche Erwartungen weckt. Ralph Westerhoff reißt in seinem Erstlingswerk verschiedene Themenkreise an, ohne den Lesern auch Antworten zu präsentieren. Der Autor ist offenbar ein guter Erzähler, aber seine spannende Geschichte ist etwas zu sehr "zerfasert". Der Mord im Prolog entschädigt immerhin für die langen Passagen, in denen es mit dem Kriminalfall nicht recht voran geht. Das unterhaltsame Buch hätte das Potenzial für einen wirklich guten Krimi gehabt, aber am Aufbau seiner Geschichten muss der Autor noch kräftig feilen. Glücklicherweise geht es im letzten Drittel richtig zur Sache – wenn Ralph Westerhoff an seinen Schwächen arbeitet, kann man sich auf sein nächstes Buch durchaus freuen.
Ralph Westerhoff, Emons
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