Totensteige
- Argument
- Erschienen: Januar 2012
- 6
- Hamburg: Argument, 2012, Seiten: 400, Originalsprache
Ein Feuerwerk der Fabulierkunst
Ich bin noch voll im Rausch!
HAMMERKLASSE
Dieses Buch ist echt der absolute Wahnsinn. Die Ereignisse überschlagen sich regelrecht und sorgen für reichlich Action!
(..)
Lest dieses BUCH
Ich verspreche euch, es ist grandiös!"
Die Autorin möge dem Rezensenten verzeihen (er weiß, dass sie Spaß versteht), denn dieser Kommentar ist geklaut und bezieht sich auf ein anderes, schmalbrüstiges Werk eines amerikanischen Thrillerautors. Aber die jugendliche Begeisterung, die aus diesen Zeilen strömt, kann der Rezensent in seinem gesetzten Alter nur schwerlich toppen. Ähnlich, wenngleich in anderen Worten, hat er nach Beendigung der Lektüre von Totensteige auch empfunden.
Man könnte Christine Lehmanns 10. Folge ihrer Lisa-Nerz-Reihe ohne weiteres als ihr bisheriges Opus magnum bezeichnen. Magnum nicht allein wegen seines, im Vergleich zu den Vorgängern, stolzen Umfangs von 537 Seiten. Die Autorin hat halt viel zu erzählen und davon ist - das sei schon mal vorausgeschickt - nicht eine einzige Zeile langweilig. Magnum ist es, weil es der Autorin gelingt, verschiedene Subgenres des Spannungsromans vom klassischen "Locked-Room-Mystery" bis hin zum modernen Verschwörungsthriller zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden. Magnum ist auch ihr Thema, denn es geht um nichts Geringeres als die Wahrheit, die sich im subatomaren Bereich der Quantenphysik eher als Wahrscheinlichkeit darstellt, und auch eine philosophische Annäherung an die "Große Wahrheit" endet in Unschärfe. Mit "Natur der Dinge" umschrieb der jüdische Philosoph und Religionskritiker Spinoza diese "Letzte Wahrheit", als er versuchte, einen entpersonifizierten Gottesbegriff zu definieren.
Christine Lehmann nähert sich der Wahrheit über das Gebiet der Parapsychologie, deren beschriebene Phänomene wir mit gebührender Skepsis betrachten, da zum einen in diesem Bereich viel Scharlatanerie betrieben wird und zum anderen einer Verifizierung der Phänomene durch Wiederholung Grenzen (Elusivität) gesetzt sind. Wer schon wäre besser geeignet, Licht in diese Angelegenheit zu bringen, als Schwabenreporterin Lisa Nerz.
Lisa Nerz möchte für die Wochenendausgabe ihrer Zeitung einen ausführlicheren Artikel über parapsychische Phänomene schreiben. Neben der Recherche in Archiven und Internet nimmt sie auch Kontakt zu einschlägig bekannten Zirkeln auf. Ein weiterer Weg führt sie zum Institut für Grenzwissenschaften und Parapsychologie in Holzgerlingen, um den Institutsleiter Gabriel Rosenfeld zu interviewen. Als sie dort eines Montagmorgens ankommt, trifft sie nur auf Rosenfelds Stellvertreterin Derya Barzani und dessen Sekretärin Desirée Motzer. Beide Damen sind noch ahnungslos ob des Schicksals ihres Chefs, der derweil ermordet und bestialisch zugerichtet direkt hinter der verschlossenen Tür seines Büros liegt. Wie die Polizei feststellt, geschah der Mord schon am Freitagnachmittag. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Zur vermuteten Tatzeit war nur eine weitere Person im Institut tätig: der aus Rumänien stammende Maler und Anstreicher Juri Katzenjacob. Blut an seiner Kleidung, Fußspuren und Fingerabdrücke im Büro belegen seine Anwesenheit am Tatort. Katzenjacob legt ein Teilgeständnis, bestreitet aber energisch, Rosenfeld ermordet zu haben. Die Indizien lasten schwer, aber die größte Frage bleibt: wie konnte Katzenjacob das Büro verlassen? Und was waren seine Motive? Wer Lisa Nerz kennt, weiß, dass sie die Beantwortung solcher Fragen nicht der Polizei überlässt, sondern sich selber dahinterklemmt.
Der an sich überschaubare Fall schlägt hohe Wellen. Die Medien haben spitz gekriegt, dass ihm etwas Mysteriöses anhaftet. Ist Katzenjacob mehr als ein einfacher Anstreicher? Besitzt er vielleicht parapsychische Fähigkeiten? Ist er gar ein Parapsychopath, der aus dem Gefängnis seine Ränke schmiedet?
Während die Presse die Psi-Suppe hochkocht, versucht Lisa, Rosenfelds Institut zu durchleuchten. Sie stößt auf ein hochdotiertes Preisgeld, auf seltsame Sponsoren und verwandtschaftliche Verquickungen. Zusammen mit ihrem Freund Oberstaatsanwalt Richard Weber und Derya Barzani vom Institut reist sie zuerst nach Edinburgh, dann alleine nach Spanien, um ehemalige Institutsmitarbeiter aufzuspüren und zu befragen. Es werden abenteuerliche Unternehmen, denn Unbekannte setzen alles daran, Lisas Nachforschungen zu torpedieren.
In der Zwischenzeit nimmt der Hype um Juri Katzenjacobs vorhandene oder nicht vorhandene Psi-Fähigkeiten groteske Ausmaße an. Die Weltmeinung ist gespalten. Eine besonnene Minderheit spricht ihm grundsätzlich jede besondere Fähigkeit ab. Doch die Mehrheit, durch die Medien aufgestachelt, macht ihn für alles Unglück in der Welt verantwortlich. Selbst Oma Scheible, Lisas sonst so robuste Nachbarin, kann sich dem Psi-Fieber nicht entziehen:
"Des war wieder der Bue, der wo Psi kann, gell? Des Schiff, wo
g'sunke isch, des war auch der, saget se im Fernsehe. Und jetzt
des Kernkraftwerk in Frankreich."
Lisa Nerz´ Recherchen über die Hintergründe der Vorgänge am Holzgerlinger Institut werden nur zum Teil von Erfolg gekrönt. Der Themenkomplex Parapsychologie offeriert nur wenige saubere Lösungen. Je weiter sich Lisa der Wahrheit zu nähern glaubt, je ferner scheint diese zu verschwinden. Ihre Suche nimmt obsessive Züge an. Zeitweilig glaubt sie sogar, selbst über paranormale Kräfte zu verfügen. Sie wirkt verunsichert, weil sie die Dinge, die mit ihr und um sie herum geschehen, nicht einordnen kann. Auch Richard Weber, der sonst stoisch wie der Fels in der Brandung wirkt, zeigt angesichts der Massenhysterie Nerven. Er fällt eine für ihn möglicherweise weitreichende Entscheidung.
Der Rezensent hat sich seine "über 90°- Bewertungen für ganz besondere, außergewöhnliche Romane vorbehalten; Totensteige ist einer davon.Was Christine Lehmann hier auf über fünfhundert Seiten zelebriert, ist wahre Fabulierkunst. Man spürt in jeder Metapher, jedem Satz, jeder Szene, dass sie wohl durchdacht, aber spontan entstanden sind. In der Leserunde zu Totensteige im Krimi-Couch-Forum (Link – s.u.) verriet die Autorin ihr Geheimnis:
"Jawoll! Ich schreibe mit Ernst und Leidenschaft, aberauch immer mit einem riesigen Lachen im Hintergrund."
Diese Eigenschaften spürt der Leser nicht nur, sie werden auch auf ihn übertragen. Fasziniert erlebt man mit, wie die Autorin die Spirale des Wahnsinns immer höher schraubt, bis sie in einem finalen Ultimatum endet.
Dieser vielseitige Plot, der auf verschiedenen Ebenen dargeboten wird, sucht in der deutschen Kriminalliteratur seinesgleichen. Hier paaren sich Wissen, Fantasie und Inspiration mit Humor und Sprachgewalt. Mit Totensteige hat Christine Lehmann sich und ihrer Heldin ein Denkmal gesetzt.
Christine Lehmann, Argument
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