Schneeschwestern
- Ed. Nautilus
- Erschienen: Januar 2011
- 1
- Hamburg: Ed. Nautilus, 2011, Seiten: 352, Originalsprache
Schneegestöber
Fleurville ist ein fiktives Städtchen irgendwo in der französischen Provinz nahe der deutschen Grenze. Es ist Anfang November und ein unerwarteter Wintereinbruch hat die Temperaturen schon in den Minusbereich getrieben. Mit ergiebigem Schneefall ist stündlich zu rechnen. Nichtsdestotrotz zieht es eine Gruppe Jugendlicher nach ihrem freitagabendlichen Discobesuch an den etwas abseits gelegenen Feen-See. Die Macht der Hormone und reichlich Alkoholgenuss lassen sie die Minusgrade vergessen. Auf dem Parkplatz am See kommt es zu einer kleinen Auseinandersetzung. Die 16-jährige Geneviève Mortier, eines der beiden Mädchen, flüchtet in den angrenzenden Wald. Ihre beste Freundin folgt ihr, ebenso der als jähzornig bekannte Philippe.
Beobachtet wird die nächtliche Szenerie von einem unbekannten älteren Mann in seinem Auto. Schon seit Stunden der klirrenden Kälte trotzend folgt und beobachtet er die "kleine" Mortier auf Schritt und Tritt, denn heranreifende Lolitas sind die Objekte seiner perversen Gelüste. Aber nur observieren, nicht aussteigen und nicht aktiv werden, ist die Marschroute des sich selbst therapierenden Sexualstraftäters geworden. Vor vier Jahren wäre er fast in flagranti erwischt worden, seitdem beschränkt er seine "Freizeitbeschäftigung" auf die eines Voyeurs. Wer´s glaubt, denn schon ist er draußen.
In den frühen Morgenstunden des Samstags geht bei der Polizei in Fleurville ein Anruf ein. Die Besitzerin eines dem See nahegelegenen Kottens berichtet, dass sie im Garten ihres Anwesens auf die Leiche einer jungen Frau gestoßen sei. Die Nachtschicht des Reviers informiert den außerhalb wohnenden Dienststellenleiter Kommissar Roland Colbert. Ein Team kämpft sich bald durch Frost und Schnee zum See hinaus, um eine erste erkennungsdienstliche Bestandsaufnahme zu machen. Bei der Schnee überdeckten Leiche im dünnen Disco-Outfit handelt es sich um Geneviève Mortier. Eine blutige, klaffende Kopfwunde lässt auf Mord oder Totschlag schließen, der fehlende Slip möglicherweise auf ein sexuelles Motiv.
Matthias Wittekindt erzählt aus ständig wechselnden Perspektiven über die Ereignisse jener verhängnisvollen Nacht natürlich nur bruchstückhaft, da in einer vollständigen Rekonstruktion der Abläufe die Lösung des Rätsels um Genevièves Tod liegt. Kapitalverbrechen sind in Fleurville eine Seltenheit und so wirkt auch die örtliche Polizeitruppe reichlich überfordert. Selbst ihr Chef Colbert, den Wittekindt parallel zu den laufenden Ermittlungen ausführlich vorstellt, ist in seinen Gedanken mehr bei seiner Familie, im anstehenden Urlaub oder beim Spaghettikochen. Zum Glück hat er zwei engagierte Mitarbeiter. Unermüdlich ist der Einsatz der Erkennungsdienstlerin Grenier und auf das Bauchgefühl von Sergeant Ohayon ist mehr Verlass als auf die kombinatorischen Fähigkeiten der restlichen Truppe. Trotzdem bleibt einiges unbeachtet.
Schneeschwestern ist durchgängig in der ungeliebten Zeitform Präsens geschrieben, was anfänglich den Lesefluss doch erheblich hemmt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass Wittekindt teilweise auf die Technik des Bewusstseinsstroms (stream of consciousness) zurückgreift. Entsprechend wird die Gedankenwelt einiger Charaktere in fragmentarischen oder zerstückelten Sätzen, in isolierten Worten und unfertigen Bildern dargestellt, was sich öfter als reine Effekthascherei entlarvt, als dass es Personal und Handlung vorantreibt. Auffällig dabei ist, dass der Autor seine Figuren nicht frei assoziieren lässt, sondern immer wieder kommentierend, gängelnd oder gar prophezeiend eingreift. Das führt zu nicht nachvollziehbaren Gedankensprüngen, die den Leser schon mal ratlos zurücklassen.
Da sitzt zum Beispiel die Lebensgefährtin des Kommissars Kartoffeln schälend in der Küche und sinniert über Erziehungsstrategien und Jugenderinnerungen, während sie auf das nackte Hähnchen blickt, das sie gleich zubereiten will:
"Sie betrachtet das Hähnchen und es kommt ihr seltsam fremd vor in seiner Nacktheit. Und genau aus dieser unerklärlichen Fremdheit des Hähnchens wird etwas entstehen, das ihr Leben und das von Roland Colbert dauerhaft beeinflussen wird"
Erst gegen Ende der Geschichte bekommt man eine Ahnung, was damit gemeint sein könnte, aber bis dahin hat man diese kleine Szene längst vergessen. In diesem Tenor wird viel gedacht und philosophiert. Das meiste wirkt schrecklich manieriert, als wolle der Autor seinem Plot gewaltsam einen intellektuellen Stempel aufdrücken, wobei es doch eigentlich nur um die kleinen Sorgen des Alltags geht, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder von Karriere und Mutterschaft oder die emotionale Instabilität von Pubertierenden. Nichts, was unter den Nägeln brennt. Nichts, was nicht an anderer Stelle besser abgehandelt worden wäre. Nebensächliches, Angedachtes, Unfertiges nimmt sich breiten Raum und die eh schon nicht sonderlich nervenzerrende Krimihandlung verschwindet im Schneegestöber.
"Mord ist eine schreckliche Sache. Zerkochte Spaghetti übrigens auch"
Schon die ersten Zeilen des Romans lassen befürchten, dass der Autor dem Privatleben seiner Protagonisten den gleichen Stellenwert hat wie dem Krimiplot. Privates gut und schön. Es dient dazu, die handelnden Personen besser zu verstehen, gibt ihnen Tiefe und Hintergrund. Im Falle des Kommissars Colbert und seiner Familie hat Matthias Wittekindt den Bogen überspannt. Auch wenn Colbert sein Hauptprotagonist ist und ihm dadurch mehr Beachtung zusteht, muss man sich nicht auch noch die Konflikte seiner Lebensgefährtin antun, zumal sie sich vornehmlich mit dem Problem beschäftigt, ob nun ein Text von Schopenhauer in ein französisches Schulbuch gehört oder nicht.Das hat alles keine Relevanz für den Fall, übt auch keinerlei Einfluss auf den Kommissar aus, weil der von allem gar nichts mitbekommt. Der ganze häusliche Hickhack steht wie ein Fremdkörper neben der Kriminalgeschichte und Wittekindt hätte besser daran getan, ihn auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Da hat er in dem von ihm entfachten Schneegestöber wohl seine Balance verloren.
Matthias Wittekindt, Ed. Nautilus
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