Schrei aus der Ferne
- dtv
- Erschienen: Januar 2012
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- London: William Heinemann, 2009, Titel: 'Far cry', Seiten: 500, Originalsprache
- München: dtv, 2012, Seiten: 544, Übersetzt: Sophie Kreutzfeldt
Wenn das eigene Kind verschwindet…
1995: Zunächst nur zögerlich stimmen Ruth und Simon einem kurzen Urlaub ihrer Tochter Heather zu, die mit ihrer besten Freundin Kelly und deren Familie ans Meer nach Cornwall fahren möchte. Doch die Aussicht auf ein paar Urlaubstage zu zweit in Frankreich lassen sie schließlich nachgeben. Als Kelly und Heather abends noch mal kurz an Meer gehen möchten geraten sie in einen plötzlich aufziehenden dichten Nebel und verlieren sich aus den Augen. Kelly wird von einem Einsiedler leicht verletzt aufgefunden und gerettet, während Heather zunächst verschwunden bleibt. Erst nach ein paar Tagen wird ihre Leiche in einem stillgelegten Minenschacht gefunden. Offenbar ist sie in der Dunkelheit gestürzt, für eine Fremdeinwirkung durch Dritte gibt es keine Anhaltspunkte. Trevor Cordon, der die Ermittlungen leitet, kommt die Sache dennoch komisch vor, denn der Minenschacht wurde kurz nach Heathers Verschwinden durchsucht - ohne ihre Leiche zu finden…
2008: Ruth, die sich nach Heathers Tod von Simon getrennt hat, ist nun mit Andrew verheiratet. Beide haben eine gemeinsame Tochter Beatrice, die inzwischen in Heathers Alter ist. Da geschieht das Unglaubliche, Beatrice verschwindet spurlos. Detective Inspector Will Grayson, der selber zwei Kinder hat, ermittelt mit seinem Team auf Hochtouren. In sein Visier geraten der erst kürzlich entlassene Sexualstraftäter Mitchell Roberts, ein Bekannter von Ruth und Andrew und auch Simon macht einen verwirrten Eindruck. Doch während die beiden Letztgenannten offenbar über Alibis verfügen fehlt von Roberts plötzlich jede Spur…
"Das Gremium, das über eine bedingte Haftentlassung entscheidet, hat echte Reue bei ihm festgestellt. Ihm ist klar, dass er etwas Unrechtes getan hat."
"Etwas Unrechtes?"
"Ja."
"Und sie glauben das?"
"Ja. Bis er mir einen Grund gibt, etwas anderes zu denken."
"Wenn er Ihnen einen Grund dazu gibt, ist es zu spät."
Der zweite Fall mit dem Ermittlerduo Will Grayson und Helen Walker könnte womöglich auch der letzte sein; zumindest deutet das Ende des Romans in diese Richtung. In Schrei aus der Ferne vermischt John Harvey gleich mehrere Fälle miteinander. So werden die Ereignisse aus 1995 aufgezeigt, der aktuelle Vermisstenfall untersucht und ganz nebenbei ergeben sich plötzlich neue Anhaltspunkte für eine Reihe unaufgeklärter Fälle, in denen junge Mädchen entführt und missbraucht wurden. Dabei steigert sich Will Grayson geradezu obsessiv in die Verfolgung von Mitchell Roberts, obwohl er hierfür gar nicht zuständig ist. Wer einmal ein Mädchen missbraucht, der hat eine Vorgeschichte und schlägt immer wieder zu, ist Grayson überzeugt und ermittelt zunächst fast ausschließlich im Fall Roberts. Dies ist auch kein Problem, denn das auf dem Buchcover vorweg genommene Verschwinden von Beatrice erfolgt erst nach rund 300 Seiten.
"Jetzt genieße ich die Freuden der Polizeiarbeit auf dem Lande."
"Was heißt das? Fälle von Schafdiebstahl und dergleichen?"
"Ganz so aufregend ist es nicht."
Recht gekonnt werden die verschiedenen Fälle miteinander verwoben und am Ende alle sauber aufgeklärt. So leidet der Roman nicht unter mangelnder Spannung (ganz im Gegenteil), sondern in erster Linie unter seinem Protagonisten. Will Grayson ist ein reaktionär wirkender Ermittler mit zum Teil recht zweifelhaften Arbeitsmethoden. Man könnte ihn auch als äußerst unsympathisch bezeichnen und so bleibt es seiner Partnerin Helen Walker überlassen, Sympathiepunkte bei den Lesern einzufahren. Eine junge, attraktive und zudem allein stehende Polizistin, die – immer einen frechen Spruch auf der Lippe – vor allem ihre privaten Probleme zu lösen hat. In der Liebe will es halt einfach nicht klappen.
Inhaltlich überzeugt der Plot, geht es immerhin einmal nicht primär um ein Tötungsdelikt, wie es sonst üblicherweise der Fall ist. Dennoch geht das Verschwinden von Heather und Beatrice nicht nur den betroffenen Eltern und vor allem Ruth an die Nerven. Insbesondere Leserinnen und Leser die selber Kinder haben, sollten sich den Kauf dieses Romans überlegen, denn insgeheim denkt man natürlich bei der Lektüre, was wäre, wenn es einen selber treffen würde. Wer damit keine Probleme hat findet einen äußerst kurzweiligen Plot mit einigen gelungenen Cliffhangern. Zudem sorgen viele kurze Kapitel mit häufigen Szenewechseln dafür, dass man geradezu weiterlesen muss. Die rund 540 Seiten lassen sich an einem Wochenende problemlos bewältigen und das ist doch letztlich ein gutes Zeichen. Ob man dennoch mehr Fälle mit Will Grayson lesen möchte sei dahin gestellt; Helen Walker aber wollen wir auch zukünftig erleben.
John Harvey, dtv
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