Das Verderben
- Blanvalet
- Erschienen: Januar 2000
- 10
- London: Hutchinson, 1999, Titel: 'Harm Done', Seiten: 394, Originalsprache
- München: Blanvalet, 2000, Seiten: 479, Übersetzt: Cornelia C. Walter
- München: Goldmann, 2001, Seiten: 479
- München: Goldmann, 2004, Seiten: 479
Erfreulich, dass sich Ruth Rendell immer wieder auf ihre Stärken besinnt
Seltsames geht vor in der englischen Kleinstadt Kingsmarkham: Ein junges Mädchen verschwindet spurlos; als es nach drei Tagen unversehrt wieder auftaucht, weigert sie sich, der Polizei zu sagen, was geschehen ist. Kurze Zeit darauf stösst einer zweiten Frau dasselbe zu. Für die Polizei haben die Vorfälle nichts miteinander zu tun. Chief Inspector Wexford denkt da allerdings anders. Sein Interesse ist geweckt, als er nach mühsamem Befragen der verstockten Opfer erfährt, dass diese gezwungen wurden, für die Kidnapper Haushaltsarbeiten zu verrichten!
Der getreue Sergeant Burden bemüht sich, den Eifer seines Chefs auf Wichtigeres zu lenken. Nach langjähriger Haft kehrt ein notorischer Pädophiler in seinen Heimatort Kingsmarkham zurück. Die wenig erbauten Nachbarn tun sich zusammen, um den ungeliebten Neuankömmling zu vertreiben. Dabei schrecken sie vor Gewalt nicht zurück, rotten sich zusammen und belagern das Haus des Mannes. Als ein drittes Mädchen, dieses Mal ein zweijähriges Kind, verschwindet, eskaliert die Situation. Aus der improvisierten Bürgerwehr wird ein entfesselter Mob, der vor die Kingsmarkhamer Polizeiwache zieht und buchstäblich den Kopf des vermeintlichen Täters fordert. Offener Aufruhr bricht los, bei dem ein Polizist zu Tode kommt.
Viel Arbeit also für die Polizei von Kingsmarkham. Das Rätsel der ersten beiden Entführungsfälle kann gelüftet werden: Eine psychisch gestörte Frau suchte auf ungewöhnliche Weise eine Haushaltshilfe für ihren geisteskranken Neffen. Auch das verschwundene Kind wird unversehrt aufgefunden. Wexford und Burden kommen einer Familientragödie auf die Spur: Die eigene Mutter hat ihr Kind weggegeben, um es vor dem gewalttätigen Vater zu schützen, der seine Frau demütigt und schlägt und die ganze Familie durch stetigen Terror in Angst und Schrecken versetzt. Da niemand wagt, sich gegen den Ehemann und Vater zu stellen, bleibt die Polizei machtlos. Wexford lässt die Familie aus der Ferne beobachten, und bald mehren sich die Anzeichen dafür, dass Frau und Kinder stärker als je zuvor zu leiden haben.
Doch dann wird der brutale Tyrann plötzlich erstochen. Alles deutet auf die gepeinigte Ehefrau als Täterin hin; sogar die minderjährigen Söhne sind verdächtig, aber die Polizei findet rasch heraus, dass der Ermordete viele Feinde in Kingmarkham hatte - und nicht alle können ein Alibi vorweisen ...
Zu ihrem 70. Geburtstag beschert die jüngst mit dem "Grand Masters Award", dem "Oscar" der Krimi-Schriftsteller, ausgezeichnete und in den Adelsstand erhobene Ruth Rendell ihren Lesern einen neuen Fall für Chief Inspector Reginald Wexford und Sergeant Michael Burden - den 18. bereits!
Die Geschichte spielt erneut in Kingsmarkham, jener kleinen Stadt in England, in der die Polizisten Wexford und Burden, ihre Kolleginnen und Kollegen, ihre Familien und Freunde seit 1964 mit den unterschiedlichsten Verbrechen konfrontiert werden. Der Leser kennt und schätzt sie und hat ihr literarisches Leben über Jahrzehnte verfolgen können. Das macht (neben einer meist ausgetüftelten Handlung) den Reiz der Wexford-Reihe aus.
Besonders auffällig ist die Entwicklung der Hauptfigur. Der Wexford der frühen Romane war ein dicker, lauter, poltriger Geselle hart am Rande der Karikatur, der an den Komiker W. C. Fields erinnerte. In dem Masse, wie Rendell ihre Fähigkeiten als Schriftstellerin ausbaute, änderte sich dies. Wexford wurde reifer, und von Roman zu Roman gewann er an Profil.
Auch die Geschichten wurden komplexer. Vom beschaulichen Provinz-Städtchen, in dem höchstens einmal ein böser Neffe den reichen Erbonkel um die Ecke bringt, entwickelte sich Kingsmarkham zu einer modernen Kleinstadt, in der auch die Verbrecher inzwischen auf dem neuesten Stand sind. In den letzten Jahren gönnte Rendell den armen Bürgern gar keine Ruhepausen mehr. Militante Umweltschützer marschieren ein, eine Bürgerwehr formiert sich und belagert die Polizeiwache. Wexford und seine Leute handeln oft weniger als Polizisten, sondern eher als UNO-Einsatztruppe, die froh sein muss, die allerorts aufflackernden Unruhen in den Griff zu bekommen.
Nachdem "Wer Zwietracht sät", das 17. Wexford-Abenteuer, aufgrund seiner nicht immer schlüssig entwickelten Handlung ein wenig enttäuschte, zeigt sich Autorin Rendell mit "Das Verderben" in besserer Form. Erneut fehlt allerdings ein klar strukturierter Plot. Er wird zugunsten einer Reihe mehr oder weniger miteinander verknüpften Episoden aufgegeben. Das mag den Puristen stören (von der Kritik wurde "Das Verderben" mehrheitlich eher schlecht aufgenommen), spiegelt aber den Polizeialltag wahrscheinlich treffender wider. Erfreulich ist es, dass sich Rendell wieder auf ihre Stärken besinnt. Sie blickt in die Abgründe des oft nur nach aussen achtbaren kleinbürgerlichen Mittelstandes, widmet sich dieses Mal aber auch der wirtschaftlich und sozial ausgegrenzten Unterschicht in den 'Slums' von Kingsmarkham, in denen Arbeits- und Perspektivenlosigkeit für eine explosive Stimmung sorgen, die sich leicht in offener Gewalt entladen kann.
Trotz der eher ernsten Themen bleibt "Das Verderben" von der ersten bis zur letzten Seite sehr unterhaltsam. Angenehm macht sich bemerkbar, dass Rendell zu dem trockenen, "britischen" Humor zurückgefunden hat, der gerade im letzten Wexford-Roman ein wenig zu kurz gekommen war.
Ruth Rendell, Blanvalet
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