Blutschneise

  • Seeling
  • Erschienen: Januar 2011
  • 2
  • Frankfurt am Main: Seeling, 2011, Seiten: 170, Originalsprache
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Dieter Paul Rudolph
91°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2011

Ein Krimi, den jeder schreiben kann

Eine der üblichen Reaktionen auf moderne, nichtgegenständliche Kunst: "Das kann meine Nichte auch!" Dann der vernichtende Zusatz: " – und die ist erst DREI!" Dass, wer so urteilt, in aller Regel einen leidend schauenden Jesus mit plakativen Wundmalen in Öl über dem Ehebett hängen hat oder die legendäre glutäugige "Zigeunerin", überrascht nicht. Auch dass die Nichte später, gerade 30 geworden, sich einen Modigliani-Kunstdruck ins Wohnzimmer hängt, weil der farblich perfekt zur Couchgarnitur passt, sehen wir ächzend voraus.

Guido Rohms Blutschneise, der zweite Band einer "Blut-Trilogie", wird bei Freundinnen und Freunden einer "gegenständlichen" Kriminalliteratur möglicherweise ähnliche Reaktionen hervorrufen. Gut, es wird eine Geschichte erzählt. Es gibt einen Helden, es gibt eine Entwicklung, es gibt Verbrechen. Der Roman besteht aus zwei Teilen, "Täter" und "Opfer", vorangestellt ist ein "Prolog", in dem bereits etwas für herkömmliche Kriminalromane Außergewöhnliches passiert. Max Vonderscheid, der Protagonist, tötet eine jüngere Version seiner selbst, die ihm allzu sehr ins Gewissen redet. Eine Wahnsinniger? Vonderscheid ist in der Warenbeschaffung tätig, ein Kaufmann also, allerdings kein ehrbarer, denn seine Ware sind junge Frauen, die er gutbürgerlichen Sadisten zum Ge- und Verbrauch zuführt. Außerdem tötet Vonderscheid selbst ganz gerne. Beiläufig und ausgiebig. Früher aus ideologischen Gründen (er gehörte einer "terroristischen Vereinigung" an), heute nur wegen des Geldes. So schlägt unser Held die titelgebende Blutschneise durch das Land, unterwegs zu einer abgelegenen Jagdhütte, wo drei Kunden bereits ungeduldig auf Nachschub warten, der gefesselt und geknebelt im Kofferraum des Vonderscheidschen Wagens liegt. Es wird nicht die einzige Blutschneise bleiben, auch anderes Personal holzt im Menschenwald. Das Leben, so scheint es, ist eine leichtverderbliche Ware, wohlfeil und in ausreichenden Mengen vorhanden, zum sofortigen Verbrauch bestimmt. Eine blutige Interpretation des Begriffes Wegwerfgesellschaft.

Beim Lesen fühlt man sich entfernt an zwei Werke erinnert, die in diesem Jahr wieder- respektive neuveröffentlicht wurden. An David Osborns Klassiker von 1974 Jagdzeit, wo ebenfalls die sadistischen Gewaltexzesse dreier Freunde in einer einsam gelegenen Jagdhütte ausgebreitet werden, und, wichtiger noch, an Stefan Kiesbyes Hemmersmoor. Auch dort fließt, in einen "Schauerroman" verpackt, Blut in Strömen. Bei Kiesbye endet selbst der alltäglichste Konflikt mit Mord und Totschlag. Rohm geht noch ein Stück weiter: Bei ihm ist Mord alltäglich, ein normaler Warenverschleiß. Dabei wird alles aufgefahren, was dem Genre lieb und teuer ist: organisiertes Verbrechen mit stilisierten Bösewichten, die etwa "Der Blinde" heißen, greinend vorgetragene Begründungen (schlimme Kindheit, da kannst du nur zum Mörder werden), die Arroganz der Macht der Gewalt, sogar eine Ahnung von Lovestory (die selbstverständlich mit der Hinrichtung der Frau endet) und vieles mehr.

Man könnte das eine Abstrahierung des Krimis nennen, einen Verzicht auf den erzählerischen Zierrat, bis am Ende nur das bleibt, was nebenbei auch das Genre selbst ausmacht: der Mensch als Lust- und Renditeobjekt, es muss getötet werden, damit der Laden läuft. Schon das macht Blutschneise zu einem "nichtgegenständlichen Krimi", der nicht mehr einen konkreten Kriminalfall erzählt, sondern ins Allgemeine transzendiert. Es ist eben auch ein Roman über den Raubtierkapitalismus, über die Alltäglichkeit des Mordens und gnadenlosen Ausbeutens der Ware Mensch. Bei der Produktion des I-Pod in China werden Arbeiter durch die brutalen Arbeitsbedingungen in den Tod gehetzt? Ach ja, schlimm. Umblättern. Es sind nur Namen, einzelne Sätze, dahinter stecken keine Biografien, keine hingebungsvoll erzählten Kitschgeschichten. So ist das Leben. So ist Blutschneise.

Im Teil "Opfer" erhalten einige der zuvor beiläufig Dahingeschlachteten ein Gesicht, eine Biografie. Es wirkt so, als wolle uns der Autor ein "Hey, Überraschung, das waren menschliche Wesen" zurufen. Aber der Autor selbst, Guido Rohm, Schreiber von Blutschneise, ist selber tot, im Verlauf der Handlung seines Romans ermordet, einfach weggeblasen samt Sohn, ein Opfer seiner eigenen schöpferischen Phantasie.

Ist also Blutschneise ein Äquivalent zu "moderner Kunst"? Anhänger traditioneller Erzählstrategien, Freunde und Freundinnen hyperrealistischer Fabulierkunst werden versucht sein, wieder irgendwelche Nichten zu bemühen, die "das auch können". Ja. Kann jeder. Es ist ein Roman, den jeder schreiben kann, weil jeder seinen Inhalt kennt, weil jeder in diesem nüchternen Noir der gesellschaftlichen Verhältnisse lebt und aufpassen muss, nicht als Ware entsorgt zu werden. Jeder kleine Fehler kann das Leben kosten, jedes Hüsteln an der Börse die Existenz, jedes zuviel gehörte Wort, jede verdächtige Geste dich auf die soziale Todesliste setzen.

Nein, Guido Rohm ist nicht die Zukunft des Krimis (der Rezensent verkneift sich die Hellseherei). Er gibt einem nur die Hoffnung, dass Krimi eine Zukunft hat. Blutschneise ist ein Roman, in den man schauen kann und der einen anschaut, in dem man Täter und Opfer ist. Ein Prolog.

Blutschneise

Guido Rohm, Seeling

Blutschneise

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