Persilschein
- Grafit
- Erschienen: Januar 2011
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- Dortmund: Grafit, 2011, Seiten: 320, Originalsprache
Das Land der Richter und der Henker. Und der Blinden
Fünf Jahre sind seit Kriegsende vergangen, Peter Goldstein ist nicht zum Kriminalrat befördert worden, hat aber seinen richtigen Namen wieder angenommen und nennt sich nicht mehr "Golsten" wie im sieben Jahre zuvor spielenden Goldfasan. Die Herrschaft der Nationalsozialisten ist zwar vorbei, aber noch nicht ausgestanden. Die Geburt der Bundesrepublik Deutschland geht rasch vonstatten und das Kind entwickelt sich prächtig. Angesichts der neuen kommunistischen Bedrohung aus dem Osten liegt es nahe, die Mitläufer, Protegés und überlebenden Mitverantwortlichen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft schnell zu rehabilitieren und zu Verbündeten im Kampf gegen die Bolschewisten jenseits des Eisernen Vorhangs zu machen. Milde, halb- und ganz blinde Ausschüsse verteilen "Persilscheine", jene oft erkauften und erlogenen Unbedenklichkeitserklärungen für minderschwer belastete Mitläufer und (scheinbare) Gegner des Nazi-Regimes.
Hauptkommissar Goldstein gerät mitten hinein in solch eine Affäre, in der es nicht nur um Persilscheine geht, sondern um alte Seilschaften, die inklusive Mord alles dafür tun, ihre im Dritten Reich angesammelten, sprich gestohlenen, Werte in Sicherheit zu bringen. Gerne über jene berüchtigte Fluchtroute Richtung Südamerika, die zuerst als Klosterroute und später als Rattenlinie bekannt wurde. Fluchthelfer gibt es zahlreiche, von radikal konservativen, faschistischen Priestern bis hin zu amerikanischen Agenten. Hilfsbereit je nach Nützlichkeit des jeweiligen Flüchtlings im Kampf gegen den Feind im Osten.
Goldstein ist von Anfang an auf verlorenem Posten. Sein Feind ist übermächtig, die wenigen redlich nach Gerechtigkeit Suchenden bestenfalls Bauernopfer in einem Kampf, den genau diejenigen ausfechten, die auch schon vor dem Ende des Dritten Reiches in Ehren und Würden – und Besitz des entsprechenden Kapitals – waren. So begegnen wir dem Kaufhausbesitzer Wieland Trasse wieder, schon vor 1945 eine große Nummer. Inhaber eines großen Kaufhauses, das er seinem jüdischen Vorbesitzer zu günstigen Konditionen abkaufte – bevor dieser im KZ umgebracht wurde. Familienmensch, der zwar Verluste zu beklagen hat, aber am Ende doch immer im Plus dasteht. Verwandten, die selbst für einen Persilschein eine zu schmutzige Weste haben, hilft er gerne. Vor allem wenn es sich rechnet. Und es rechnet sich immer.
Trasse hat das Geld, und er hat Kontakte. In den USA und im Polizeipräsidium. Peter Goldstein hat wenig. Seine Liebe zum Beruf als Polizist, einen Anfangsverdacht, Neugier und ein schlechtes Gewissen. Was mehr ist, als die meisten Menschen in seinem Umfeld besitzen. Er ist beileibe kein "Ritter ohne Furcht und Tadel", wie ihn der schuldig gewordene und reuige Dr. Gerber bezeichnet. Goldstein kennt seine Limitationen; er würde nie etwas tun, was seinen kleinbürgerlichen Lebensstandard und vor allem seine Frau Lisbeth und seinen Schwiegervater gefährden würde. Ein Naivling, der selbst nach den Erfahrungen der Hitler-Zeit von der tendenziellen Redlichkeit seiner Polizeikollegen und –vorgesetzten ausgeht. Ein Irrtum und vielleicht einer der Schwachpunkte von Zweyers Roman. Der aber der Serie geschuldet ist, nicht der Wahrnehmung und Schilderung des deutschen Beamtenbewusstseins. Goldstein/Golsten war am Ende von "Goldfasan" bereits an genau dem gleichen Erkenntnispunkt wie jetzt beim Persilschein. Wobei sich diese scheinbare Schwäche auch als resignative Schlussfolgerung lesen lässt: Das System ändert sich vielleicht, die handelnden Menschen bleiben die gleichen.
Und das ist die bittere Erkenntnis, die Jan Zweyer so beiläufig wie nachdrücklich hervorruft. Seine schlichte, doch ungemein effektive Sprache und Erzählweise stellt den etwas tumben Peter Goldstein in den Mittelpunkt der Erzählung, lässt so die offizielle Geschichtswahrnehmung Figur werden. Wie jene unbedarfte und gleichzeitig perfide Einschätzung, dass es ganz ohne die alten und vorgeblich ehemaligen Nazis nicht gelingen würde, Westdeutschland erfolgreich aufzubauen. Gleichzeitig berichtet der Erzähler Zweyer von der Hilflosigkeit und Verlogenheit dieser Position. Goldstein müsste klüger sein und mehr riskieren, um der Wahrheit und der Gerechtigkeit zum Etappensieg zu verhelfen. Doch er bleibt ein Spielstein, bewegt von Spielern, die er nicht versteht, gefangen auf einem Spielbrett, dessen Muster er nicht kennt. Nicht erkennen will. Und damit zum Stellvertreter für einen Großteil der deutschen Gesellschaft in den Gründerjahren der Republik wird.
Zwischenfrage (gestellt bereits vor Jahrzehnten): "Wie kommt es, dass mit Japan und Deutschland die Verursacher und Verlierer des zweiten Weltkriegs zu den erfolgreichsten Wirtschaftsnationen der Welt zählen?"
Gerechtigkeit. Wahrheit. Einigkeit und Recht und Freiheit. Auf tönernen Füßen. Die kühl Kalkulierenden, ohne Skrupel handelnden, Effizienz orientierten Mitbürger agieren fest verankert im System. Die wankelmütigen Mitläufer, von Gewissensbissen geplagten Unbedarften, und die nach ausgleichender Gerechtigkeit Suchenden bekommen keinen Fuß auf den schwankenden Boden. Selbst wenn sie genau wissen wie der Hase läuft, bzw. gelaufen ist, hat der immer noch einen Haken parat. Bleiben am Ende wieder: Tränen.
Ein aktueller Roman, in einer für Krimis eigentlich prädestinierten, aber wenig behandelten Epoche spielend. Ein passendes Finale für Jan Zweyers bemerkenswerte "Ruhrgebiets-Trilogie".
Jan Zweyer, Grafit
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