Totenwache
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2010
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- West Monroe: Howard Pub., 2004, Titel: 'Chop shop', Seiten: 338, Originalsprache
- München: Goldmann, 2010, Seiten: 445, Übersetzt: Christian Quatmann
CSI Pittsburgh – Christliche Spezialisten Intervenieren
Die Karriere der Pathologin Dr. Riley McKay will am Rechtsmedizinischen Institut von Allegheny County im US-Staat Pennsylvania nicht recht in Gang kommen. Dr. Nathan Lassiter, ihr Chef, nutzt sie aus und verbietet ihr, an bestimmten Obduktionen teilzunehmen. Letzteres erregt ihre Neugier. Riley beschafft sich einige auf diesen Leichen gesammelte Insekten und bittet Dr. Nicholas Polchak um Hilfe.
Der forensische Entomologe lehrt als Dozent an der North Carolina State University und genießt zumindest fachlich einen guten Ruf. Privat ist Polchak ein kritisch denkender Exzentriker, dem seine Forschung über alles geht und der nicht bereit ist, sich als gut geschmiertes Rädchen in die Universitätsmaschine einfügen zu lassen.
Da Polchak sich quasi auf Anhieb in die nicht nur kluge, sondern auch schöne Riley McKay verliebt, ist er bereit, ihr bei den Ermittlungen zu helfen. Weil er dabei ebenso unorthodox wie erfolgreich vorgeht, werden schnell Lassiters Verbindungen zu einer aufstrebenden Firma namens "PharmaGen" offenbar. Dort will man Medikamente entwickeln, die speziell auf das Genom von Kranken abgestimmt werden und dadurch besonders gut wirken.
Doch "PharmaGen" steckt in finanziellen Schwierigkeiten, denn die Vorarbeiten ziehen sich hin. Dies macht die Firma anfällig für die Einflüsterungen des manipulativen Dr. Julian Zohar, der als Geschäftsführer der Koordinationsstelle für Organbeschaffung in Pittsburgh seit Jahren darum bemüht ist, die Organspende-Bereitschaft seiner Mitmenschen zu erhöhen. Da er damit erfolglos blieb, ging Zohar zu unredlichen Methoden über. Er hat sich der Dienste einiger skrupelloser Schergen versichert, die "Spender" auf offener Straße überfallen und ihrer wertvollen Organe berauben. Zohar verkauft sie für viel Geld reichen aber kranken und schweigsamen Zeitgenossen. Schnüffler wie Polchak und McKay sind schlecht fürs Geschäft, und Zohar macht sich Gedanken, ob und wie er sie am schnellsten ausschalten kann …
Nicht allzu ausführliche Körperwelten
Ein Kriminalroman mit zwei Forensikern in den Hauptrollen, von denen der eine sich der Erforschung leichenfleischhungriger Insekten verschrieben hat: Erwarten "durfte" man den Versuch, die "CSI"-gestählte Leserschaft durch die neuerlich auf die Spitze getriebene Schilderung verwesungsbedingter Scheußlichkeiten aufmerksam zu machen.
Da sogar dieser Fraktion allmählich übel zu werden beginnt, ist es erfreulich zu erfahren, dass Tim Downs sich in diesem Punkt zurücknimmt. Detaillierte Leichenschauen sind in diesem zweiten Teil seiner Serie um den Entomologen Nick Polchak weder Selbstzweck noch ein Drehen an der Ekel-Schraube, sondern nur dort angesagt, wo sie der Story dienen.
Der zynische Rezensent könnte nun einwenden, dass dies der erste deutliche Hinweis auf einen zwar routinierten aber gleichzeitig glatten, seine Leser etwas zu offensichtlich manipulierenden Krimi ist. Für vor allem unterhaltsame Dutzendware gibt es jedoch ein kopfstarkes Publikum, dem Downs Interesse – wenn auch nicht unbedingt als Krimi-Autor – seit jeher gilt. Er orientiert sich deshalb am US-Fernsehen, dessen Erfolg u. a. auf das möglichst geschickte Neu-Arrangement bewährter Elemente zurückzuführen ist.
Grissom 2.0 – dieses Mal mit Gefühl
Dazu gehört die Balance zwischen "Handlung" und "Hintergrund": Während das Geschehen seinen Lauf nimmt, wird das Privatleben der Hauptfiguren thematisiert. Auf diese Weise steigert sich die Identifikation zwischen Leser und Figur. Dies funktioniert bei geschickter und wohldosierter Anwendung sogar bei denen, die solche seifenoperliche Einschübe mit Misstrauen betrachten.
Alte Tricks lassen sich verpacken. So hilft es, den Figuren "interessante" Eigenarten auf den Papierleib zu schreiben. Dabei sollte nicht übertrieben werden. Ein bisschen exzentrisch ist liebenswert, richtig schräg dagegen riskant, weil es das Zielpublikum verschrecken könnte. Also setzt Autor Downs seinem Dr. Polchak eine monumentale Brille auf, die allein ihn bereits optisch vom Gros seiner Mitmenschen absetzt. Ansonsten und trotzdem ist Nick ein Chaot und sanfter Meuterer gegen das Establishment, was ja jeder von uns gern wäre, sich zu sein in der Regel aber nicht traut.
Dazu kommen eine tragische, allmählich enthüllte Familiengeschichte, ein nettes Wesen, das trotz der unkonventionellen Fassade sogar von schönen Frauen wahrgenommen wird, sowie einige gute Freunde, denen Downs den Realismus zugunsten offensiver Schnurrigkeit ausgetrieben hat, was sie stets gut für ulkige Zwischenszenen werden lässt: Fertig ist der kantenfreie Grissom 2.0, der nie irritiert, sondern völlig für sich einnimmt.
Ihm zur Seite steht eine Heldin, die wie schon erwähnt nicht nur schön, sondern auch intelligent bzw. klug ist und die positiven Seiten des zerknautschten Dr. Nick sogleich erkennt. Sie trägt keine dicke Brille, sondern ist mit einem Nierenleiden geschlagen, das den gutherzigen Leser um sie bangen lässt. Zwar ist die nette Riley ein wenig zu steif in Wesen und Charakter, aber Nick lehrt sie, lockerer zu werden, d. h. sich auf Prominenten-Partys einzuschleichen, in die Häuser Verdächtiger einzubrechen oder heimlich Leichen zu untersuchen.
Immer verdächtig: Krimi mit Moral
Der Plot bzw. der Fall klingt alarmierend und authentisch, ist aber tatsächlich völlig abgehoben. Dass ein verrückter aber (selbstverständlich) genialer Nachfahre von Dr. Frankenstein Organtransplantate im Stil des organisierten Verbrechens beschafft, die erforderliche "Ware" dabei jedoch durch Mord und nach Operation im Straßengraben beschafft werden muss, will einfach nicht logisch klingen und würde nicht nur einer neugierigen Nachwuchs-Pathologin auffallen.
Downs geht es auch nicht um Realismus. Auf der einen Seite findet sich – als Absicht redlich – der Wunsch, eine möglichst spannende Handlung zu kreieren. Dem gegenüber steht das Bedürfnis, dem Publikum außerdem eine Lehre zu erteilen. Tim Downs ist nicht "nur" Autor, sondern auch Missionar. Dies darf man wörtlich nehmen, denn er gehört zu den treibenden Kräften innerhalb des "Campus Crusade for Christ", einer Bewegung, die christliches Denken und entsprechende Werte in den Köpfen zukünftiger Wissenschaftler verankern will. (Die US-Leser finden "Totenwache" übrigens im Programm eines auf ´christliche´ Literatur spezialisierten US-Verlags.)
Was damit gemeint ist, verdeutlicht u. a. eine ausführliche Unterhaltung zwischen Dr. Nick und einem alten, weisen, gar liebenswürdigen Theologen, in deren Verlauf vermittelt wird, dass und wo Gott dort verortet werden sollte, wo schnöde Fakten ansonsten das Universum aus jenen Fugen geraten lassen, innerhalb derer die frommen Anhänger eines göttlich-"smarten" Weltbilds es lieber gebettet sehen. Die Argumentation ist hinterlistig aber in ihrem geschmeidigen Zurechtbiegen der Fakten interessant, für die Handlung hat sie freilich keinerlei Bedeutung.
Zwar trägt Downs nie ganz dick auf, doch er kann und will seinen Hintergrund nicht verleugnen. Das erschwert allerdings die publikumswirksame Annäherung von Dr. Nick und Dr. Riley, die zwar wollen aber nicht können, weil sie Vorbildfunktionen erfüllen müssen. Sie verstecken sich daher hinter scheinbar unverbindlichen Witzeleien (Nick) oder persönlichen Ängsten (Riley) und eiern auf diese Weise viele Kapitel ziellos umeinander. Als es so nicht mehr weitergeht und unkeusche Ferkeleien drohend bevorstehen, löst ein tragisches Ereignis dieses Dilemma.
Schwach ist der Mensch, schlau das Böse
Der Teufel tritt heutzutage lieber im Anzug gewandet und ohne Forke auf. Downs gibt sich große Mühe, den Organräuber Zohar nicht als selbstgerechten Schurken, sondern als fehlgeleiteten Menschen darzustellen. Er wollte einst das Richtige und hat sich erst nach dem Scheitern seines Plans entschlossen, den Doppelpfad von Recht und Ethik zu verlassen. Auch dies wird uns im Rahmen einer lehrreichen Diskussion zwischen Polchak und Zohar dargelegt, was wie vorauszusehen mit einem moralischen Sieg des guten Dr. Nick endet, während sein Gegner sich als schlechter Verlierer in Mordankündigungen ergeht.
Damit es im Finale noch ein wenig dramatischer zugeht, enthüllt ein Mitglied von Zohars Mord-und-Ausschlacht-Teams seine schockierende Doppel-Identität. Noch ist der Gipfel der Unwahrscheinlichkeit nicht erklommen, denn nicht das Gesetz, sondern eine Art göttliche Gerechtigkeit richtet (in selbstgerechter Zusammenarbeit mit Dr. Nick) Zohar und seine Strolche. Das soll nach Downs Willen seine Leser bis ins Mark treffen, ist aber vor allem eines: lächerlich.
So scheitert dieser Roman nicht an seiner Plotschwäche oder einem schlechten Stil, sondern am Sendungsbewusstsein seines Verfassers. Downs schreibt gut genug, um erkennbar zu machen, wie er seine Geschichte durch die ihr aufgezwängte Mission erst hemmt und schließlich ruiniert. Das ist interessant zu verfolgen aber dem Krimi-Genuss keinesfalls förderlich.
Tim Downs, Goldmann
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