Tag der Sühne
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2011
- 5
- London: Orion, 2009, Titel: 'The anniversary man', Seiten: 390, Originalsprache
- München: Goldmann, 2011, Seiten: 608, Übersetzt: Stefan Lux
Du hast keine Chance, nutze sie
"Ich habe nicht die geringste Idee, wer der Mörder ist"
sagt Detective Ray Irving auf Seite 518 von 564 Seiten insgesamt. Ähnlich wie ihm geht’s auch dem Leser. In New York City treibt ein Serienmörder sein Unwesen und die Beamten des NYPD haben keine Chance, ihm auf die Schliche zu kommen. Serienmörder – Klappe – die eintausend und x-te? Ja und Nein! Das Serienmörderthema ist ja nun bis zum Verrecken abgegrast und der Rezensent ist alles andere als ein Fan dieses Sujets. Wenn auf der Buchrückseite zu lesen ist: "Ein grausamer Serienkiller wird gefasst. Doch das Morden geht weiter..." - (was im Übrigen eine Fehlinterpretation ist) mag das den einen oder anderen neugierig machen, den erfahrenen Leser aber zur Vorsicht mahnen. Warum der Rezensent überhaupt zugegriffen hat, liegt an den Qualitäten des Autors.
Roger Jon Ellory ist in Deutschland weitestgehend unbekannt und seine drei bisher auf Deutsch erschienenen Romane rangieren leider unter "Ferner liefen". Dabei ist sein Debüt Candlemoth (dt. Eine Zeit aus Feuer) eine wunderschöne, tieftraurige Ballade über eine Freundschaft – ungewöhnlich für die damalige Zeit und diesen Landstrich – die für den einen mit dem Tod, für den anderen in der Todeszelle endet. Obwohl Ellory Engländer ist, gelingt es ihm hervorragend die Atmosphäre eines US-Amerika zu Zeiten der Segregation darzustellen. Auch in seinem zweiten hier bei uns erschienenen Kriminalroman mit dem schrecklichen deutschen Titel Vergib uns unsere Sünden befasst sich Ellory mit US-amerikanischer Politik, wobei er sich als versierter Kenner des Landes und gnadenloser Kritiker desselben outet. Eingedenk seiner sorgfältigen Hintergrund-Recherchen war auch beim "Serienmörderthema" nicht mit einem oberflächlichen Thriller zu rechnen. Tag der Sühne ist ein Polizeiroman bester Provenienz, der in der klaustrophobischen Enge des "Big Apple" spielt.
Auch Ellory kommt nicht an ein paar Wahrheiten vorbei, die wir Leser mittlerweile als Klischees empfinden. Das ist zum einen die notorische Personalknappheit der Polizeikräfte,die nicht nur in New York City zu Arbeitsüberlastung führt, und zum anderen die Tatsache, dass, wenn der Fundort nicht Tatort ist, eine Aufklärung eines Verbrechens immens schwierig wird, da es an verwertbaren Spuren mangelt. So ist es kein Wunder, dass Detective Ray Irving trotz seines intensiven Engagements, mit dem er Ablenkung vom plötzlichen Herztod seiner Lebensgefährtin sucht, die Ermordung mehrerer Jugendlicher nicht in einen Zusammenhang bringen kann.
In einem Park in Manhattan wird eine Fünfzehnjährige erwürgt aufgefunden; wenig später zwei Teenager erschossen in der Nähe der Kaianlagen – unterschiedliche Modi operandi, keine Spuren. Erst der Hinweis eines unfreiwilligen Spezialisten veranlasst ihn, nach nur einem Täter zu suchen. John Costello arbeitet als Rechercheur für die Polizeireporterin einer New Yorker Tageszeitung. Seit er als einziger die Anschläge des sogenannten "Hammermörders" aus den 80er Jahren überlebt hat, sammelt er in den folgenden Jahrzehnten jede noch so kleine Information über die Aktivitäten von Serienmördern. In seinem phänomenalen Gedächtnis sind Daten, Uhrzeiten, Vorgehensweise, Tatwaffen und Signaturen abrufbar wie von einer Datenbank. Ihm ist es ein Leichtes, das Verbindende bei Irvings Fällen zu erkennen - der "Jahrestagsmörder" (Anniversary-Man), wie er später genannt werden wird, tötet immer an Tagen, an denen in der Vergangenheit seine "berühmt"-berüchtigten, real-existierenden Vorbilder zugeschlagen haben.
Der US-amerikanische Kriminologe und FBI-Agent Robert Ressler war in den 1980er Jahren einer der ersten, der sich systematisch mit dem Phänomen "Serial Killer" auseinandersetzte, indem er genauste Fallanalysen erstellte oder durch Interviews mit Mehrfachtätern deren deformierte Psyche zu verstehen hoffte. Ressler war auch Berater von Thomas Harris für dessen Das Schweigen der Lämmer (1988), mit dem dieser Mördertypus in der Kriminalliteratur salonfähig wurde. Seit dieser Zeit ist jede Menge an Sachliteratur zu diesem Thema erschienen. Es gibt sogar eine Enzyklopädie der Serienmörder. In der Kriminalliteratur geben sich die Serienmörder die Klinge in die Hand. Die Versuche mancher Autoren den Lesern mittels (pseudo-)psychologischen Erklärungen Einblick in die kranke Welt ihrer Psychopathen zu geben, wirken oft nur lächerlich. Auf diese Schiene lässt Ellory sich erst gar nicht ein. Das mag man tatsächlich als Manko empfinden, gibt aber dem Autor die Möglichkeit, das Versteckspiel bis auf den allerletzten Punkt auszudehnen. Wer hinter den heimtückischen Morden steckt, ist bekannt: ein Psychopath. Wie er nun heißt ist zweitrangig. Spannender und das macht auch den Reiz dieses Krimis aus, ist die Frage, wann und wo er wieder zuschlägt, und ob die Ermittler es schaffen, dies zu verhindern. Sie jagen ein Phantom, das sie mit gezielt gestreuten Informationen zu immer neuen Runden einlädt. Manchmal denken sie, er stecke in ihren eigenen Reihen.
Da bekommt der Goldmann-Verlag mit The Anniversary Man einen richtigen Reißer von einem Polizeithriller in die Hand und verpackt ihn wie einen Ladythriller (keine Wertung). Aschenputtels verlorener Schuh passt zum Inhalt wie besagtes Fahrrad zum Fisch. Natürlich ist die Covergestaltung an den Vorgängerroman VergibunsunsereSünden angelehnt. Ein einheitliches Erscheinungsbild erhöht den Wiedererkennungswert. Darüber könnte man sich als Autor auch freuen, wenn denn das Cover in einer Form mit dem Inhalt korrespondierte. Mit Wahl eines deutschen Titels für fremdsprachige Publikationen steht der Goldmann-Verlag grundsätzlich auf dem Kriegsfuß. Tag der Sühne als Titel ist schon fast geschäftsschädigend. Wie einfach und naheliegend wäre es doch in diesem Fall gewesen, die deutsche Ausgabe mit "Der Jahrestagsmörder" zu betiteln.
So bleibt zu befürchten, dass Roger Jon Ellory mit seinen exzellenten Romanen verkaufstechnisch in Deutschland weiterhin in zweiter oder dritter Reihe rangieren wird. Krimitechnisch sitzt er schon längst in der ersten Reihe.
Der deutsche Journalist Alf Mayer schrieb zu Ellorys Werk:
"Sein tiefstes, betörend schönes Buch wurde bislang in 23 Sprachen übersetzt, Deutsch ist nicht darunter. "A Quiet Belief in Angels" (Ein stiller Glaube an Engel) von 2007 fiel hierzulande offenbar durch alle Raster, da halfen auch Auszeichnungen und Preise in Frankreich, England und Kanada nichts. Hiesige Leser müssen sich mit einigen wenigen Krumen des Autors R.J. Ellory genügen. Aber auch die sind gehaltvoller als das, was sich auf Grabschhöhe in den großen Buchhandlungsketten zu blutüberspritzten Haufen stapelt. In der immer deftiger auftrumpfenden Krimiflut versucht zurzeit das Cover eines Ellory-Paperbacks mit einem umgekippt daliegenden roten Damenschuh auf sich aufmerksam zu machen, sein Titel: "Tag der Sühne", erschienen im Goldmann-Verlag."
Das ganze lesenswerte Essay findet man im CULTurMAG.http://culturmag.de/rubriken/buecher/alf-mayers-%E2%80%9Eblutige-ernte/43699
R. J. Ellory, Goldmann
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