Krimi-Hörspiele:
Mediatheken / 50
"Von hier bis zu Anfang"
Ein Geniestreich
Der Herbst 2024 ist Erntezeit und der öffentlich-rechtliche Rundfunk beschert die Hörer mit einer geballten Ladung mehrteiliger Hörspiele (Rabenkinder, Von hier bis zum Anfang, Abgrund, Sörensen). Ein Beleg, dass trotz aller Zentralisierung in den Redaktionen noch hervorragend gearbeitet wird. Jahreszeitgemäß überwiegt auch die düstere, traurige Stimmung.
Der Autor
„We begin at the end“ (2020) ist das dritte Buch von Chris Whitacker, der viele Jahre als Trader gearbeitet hat, in England mit seiner Familie lebt, aber seine Romane gerne in den USA spielen lässt, „weil sich in jeder Gegend ein ganzer Kontinent versteckt“. Die deutsche Übersetzung „Von hier bis zum Anfang“ landete im Sommer 2023 schnell auf der Spiegel Bestsellerliste. Im renommierten Guardian wurde es als Buch des Jahres bezeichnet. Auch sein neues Buch: „In der Dunkelheit der Farben“ war im August 2024 bereits in der Krimibestenliste des Deutschlandfunks.
Der Inhalt
Die fünfzehnjährige Duchess Radley hält die Familie zusammen, ihre alkoholkranke Mutter Star und ihren kleinen Bruder Bruder Robin. Sie leben in einer typischen amerikanischen Kleinstadt an der Küste Kaliforniens: Cape Haven. Star kommt nicht über den Tod ihrer kleinen Schwester vor dreißig Jahren hinweg. Sie trinkt, wirft sich Männern hin, insbesondere Dickie Dark, dem Vermieter, der es auf die harte Tour liebt. Doch dann wird das Leben noch schwerer. Der Täter Vincent King kommt nach 30 Jahren Haft frei. Chief Walk holt ihn ab, sie waren seit früher Kindheit Freunde. Kurz darauf passiert es tatsächlich: Star wird, schwer misshandelt, ermordet aufgefunden. Selbstredend wird Vincent verhaftet. Aber Chief Walk glaubt nicht an seine Schuld. Hat Dickie Dark ein Alibi? Und Walk kümmert sich um die Kinder. Sie kommen zu ihrem Großvater Hal in Montana. Hal lebt allein auf einer einsamen Ranch, gewinnt die Kinder allmählich für sich und wird erschossen. Jemand hat es auf die Kinder abgesehen. Kurz darauf wird Milton, der Metzger, ertrunken aufgefunden. Chief Walk läuft die Zeit davon. Seinem Freund Vincent wird schon der Prozess gemacht, ihm droht die Todesstrafe. Und Walk kämpft nicht nur gegen die Uhr, sondern auch noch gegen seine eigene schwere Krankheit.
Das Hörspiel
Die Erzählstruktur ist nicht so kompliziert wie es der Titel andeutet. Die Handlung spielt innerhalb weniger Wochen und die Vergangenheit wird nur angedeutet. Ein Erzähler begleitet die beiden Protagonisten Chief Walk und Duchess Star. Walk ist eine ausgesprochene Sympathie-Figur. Er steht zu seiner Freundschaft mit dem Mörder, ist der verständnisvolle Dorfpolizist und ein grundsolider Ermittler. Duchess versteht sich als Outlaw. Für sie gilt nur ihr eigenes Recht. Wie sonst soll sie überleben. Der Hörer folgt den Beiden durch wundervolle Landschaften, grauenhafte Erlebnisse und bewegende Dialoge. Gelegentlich stockt einem der Atem ob des Grauens, dann ist man den Tränen nahe, Szenen, die das Herz berühren. Meist in kurzen Sätzen und Dialogen erzählt. Ein Cliffhanger macht neugierig auf den zweiten Teil. Das Hörspiel ist als Krimi extrem spannend, als Familiendrama mitfühlend, als Road-Movie ein Erlebnis. Es hat Vorteile, wenn ein britischer Autor, den Stoff in die Staaten verlegt: Waffen frei verfügbar, Farmen mit Pferd und Hund, einsame Landschaften und dann noch die Todesstrafe.
Alle Sprecher verdienen die höchste Punktzahl, Chief Walker (Werner Wölbl), Duchess (Vanessa Loibl) und der Erzähler (Christian Berkel) sind die Sahnehäubchen. Der Regisseurin Janine Lüttmann und ihrem Team ist eine einzigartig bewegende und spannende Interpretation gelungen. Ja und dann die Musik, die sich nie in den Vordergrund drängelt, aber immer Atmosphäre stiftet und gelegentlich zum Träumen einlädt. Es erklingt eine Interpretation von „Bridge over troubled water“. Ein Titel, der auch für das Bemühen von Chief Walker stehen könnte.
Ein paar Wermutstropfen sind, dass Whitaker gerne Klischees verwendet und vielleicht etwas zu viel will.
Fazit
Ein unbedingtes Muss für jeden Hörspielliebhaber. Das Highlight des Jahres 2024.
Couch-Wertung: 92°
ARD-Audiothek
"Der Abgrund"
Frauen in Gefahr
Das zweiteilige Hörspiel des NDR (Herbst 2024) ist die Bearbeitung eines Thrillers der jungen britischen Autorin Lucy Goacher. Ungewöhnlicherweise wurden die Buchrechte dieses Erstlings zuerst nach Deutschland verkauft, wo es im Juli 2023 erschien. Die Rechte an der englischen Originalversion erwarb (letztlich) Amazon. In England erklomm das Buch die Hitlisten des Kindle und anderer Online-Versionen. Auf ihrer Homepage verweist die Autorin auf ihre eigene Sozialphobie, die sich auch im Buch findet.
Inhalt
Die Wissenschaftlerin Clementine Harris (Clemmy) lebt erst seit kurzem wieder in London. Seit hat ihre Forschungsarbeit in Boston unterbrochen, weil ihre Schwester Poppy sich das Leben genommen hat. Poppy hat sich von einer Klippe gestürzt und kurz vor ihrem Tod noch versucht, Clemmy anzurufen. Clemmy kämpft mit Selbstvorwürfen und aber auch mit Zweifeln an dem Selbstmord. Sie zieht als Untermieterin bei Liam ein, nimmt einen Job an einer helpline für Suizid-Gefährdete an. Sie gräbt in Poppys Unterlagen, befragt ihre Mitbewohner und Freunde. Ihre Zweifel wachsen. Poppy war nicht einfach, aber kein Selbstmord-Typ. Sie rettete einen Anrufer der helpline vor dem Selbstmord. Daniel nimmt Kontakt zu ihr auf und bedankt sich. Daniels Schwester soll sich vor einen Zug geworfen haben. Doch Daniel hat Beweise, dass es nicht stimmt. Aber stimmt alles mit Daniel? Überhaupt die Männer. Gab es einen Mann in Poppy Leben? In Briefen taucht ein Ben auf. Wieso drängt sich ihr Kollege Cliff so sehr in ihr Privatleben? Und der Nachbar Patrick ist nett, aber auch seltsam. Der schwule, jederzeit hilfsbereite Liam hat auch manches zu verbergen. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Spuren, die Daniel und Clemmy aufdecken, deuten mehr und mehr auf einen Serienmörder hin. Wurde Poppy von der Klippe gestürzt? Ist sie nur ein Opfer in einer Serie eines Frauenmörders? Ist Clemmy die Nächste?
Das Hörspiel
Die Dramaturgie ist ungewöhnlich. In einem der ersten Sätze erfährt der Hörer, daß Poppy ermordet wurde. Das Hörspiel bezieht die Spannung aus der Frage: Wer war es? Und warum? Dazu bedient sich die Autorin vieler Zeitsprünge vor und zurück. Clemmy sucht als Ermittlerin in der Außenwelt, versteht sie aber nur wenn sie auch in die Innenwelt eindringt, ihre Eigene und Poppys und anderer. Der Hörer sollte sich auf die Befindlichkeit und die Gefährdetheit dieser jungen Frauen einlassen und dem Spannungsbogen folgen. Es gibt viele Dialoge, etwas zu viel innere und äußere Monologe von Poppy und Clemmy, gelegentlich eine Sprecherin. Keine Spielfilmszenen, sondern alles eher ganz normale Alltagsszenen. Wenig Musik, gelegentlich esoterisch wabernd. Insgesamt eher schlicht inszeniert, auf den Text verlassend. Der erste Teil führt Clemmy auf den Weg eigener „Ermittlungen“. Im zweiten Teil ist sie selbst im Mittelpunkt. Die Triggerwarnung vorab ist nicht schön, aber sinnvoll. Es geht um Suizid, um Frauenhass und Femizid. Wie bei vielen britischen Autoren so drastisch und wie selbstverständlich, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Die Bearbeitung hat die Vorlage sprachlich erheblich verändert und gekürzt. Die hochprofessionellen Sprecher machen dem Hörer das Leben schwer: Ihre Figuren sind sympathisch, aber jeder könnte der Mörder sein. Als Buch würde man von einem Pageturner sprechen. Zuviel eigentlich interessante Nebenthemen grenzen das Hörvergnügen ein: Lesbische Lieben, greise Eltern, Selbstfindung, riskante Internettools, Polizeiignoranz.
Fazit
Trotz kleiner Schwächen und Längen ausgesprochen hörenswert. Aktuell, lehrreich und bestens besetzt. Etwas düster und nichts für schwache Nerven.
Couch-Wertung: 85°
ARD-Audiothek
"Krimi-Hörspiele: Mediatheken / Tipps 50" von Malte Stamer, 03.2025
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Fotos: istock.com / tolgart
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