Krimi-Hörspiele:
Mediatheken / 42
"Am Schlick"
Crime noir an der Ostseeküste
Der NDR veröffentlicht im April 2024 eine sechsteilige“ Krimi-Hörspielserie“ mit hochkarätigem Personal. Allein die Besetzung mit Peter Kurth und Bjarne Mädel wird Hörer anlocken. Angekündigt wird ein düsterer Werft-Krimi über Freundschaft und Verrat, also kein geruhsamer Küstenkrimi.
Inhalt
Die Kneipe „Am Schlick“ ist der Dorfbrunnen einer kleinen Gemeinde an der Ostsee. Sie hat schon bessere Zeiten gesehen. Die Wende hat alles auf den Kopf gestellt. Wessis sind gekommen und haben ihren Reibach gemacht und nun steht die Werft und mit ihr tausende Arbeitsplätze auf der Kippe. Und dann stirbt in dieser schwierigen Phase Harry. Mit allen Wassern gewaschen, hat er als Gewerkschaftsboss alle Klippen geschickt umschifft und wohl auch ein wenig sein eigenes Schiff in den Hafen gelotst. Nun möchte der selbstbewusste Dickschädel Alexander „Sascha“ Lüttich (Kurth) sein Nachfolger werden. Als Harrys rechte Hand kennt er sich aus. Und hat Unterstützung von Enno (Mädel), seine rechte Hand, und Mai, seiner Ex-Frau und Wirtin des Schlick.
Doch in Waldemar Brams taucht überraschend ein Konkurrent auf. Der Wettkampf artet schnell in einen Krieg aus. Harmlose Delikte aus der Vergangenheit entpuppen sich hoch komplexe kriminelle Aktivitäten. Harry war bei weitem kein Unschuldslamm und Sascha kannte nur einen Teil seiner Machenschaften. Doch auch Sascha hat einiges am Laufen, das er gefährdet sieht. Die Internet-Trolle, alte und junge Nazis, Emporkömmlinge mischen gewaltig und gewalttätig mit. Überlebt Sascha mit seinem Team? Beschauliche Küstenidylle hört sich anders an.
Das Hörspiel
Die Episoden bilden ein Ganzes. Jede Episode beginnt hochgradig spannend und endet mit einem Cliffhanger, der Neugier auf die nächste Folge macht. Es geht hard-boiled zu: Erpressung, Diebstahl, Mord und Todschlag. Keine harmlose norddeutsche Provinz.
Die Story spielt in der Gegenwart, zeitlich folgend mit gelegentlichen Rückblenden oder Tonaufnahmen des toten Harry. Die Stimmung ist überwiegend düster, dick aufgetragen von der Musik. Der Hörer identifiziert sich schnell mit dem aufbrausenden Underdog Sascha und fiebert mit, wie das Ganze nun enden wird. Viel Spannung, aber eher weniger ein klassischer Krimi. Attraktive Spielorte, unterschiedliche Charaktere und Menschen, viele Handlungsebenen mit entsprechendem Sound und Geräuschen.
Die meisten Figuren sind überzeugend und glaubwürdig. Manche als Klischee aber überzogen. Muss die Betreiberin des Seniorenheims unbedingt eine Kriminelle sein? Eine „gute, ehrliche Haut“ kommt nicht vor. Die Autoren müssen aufpassen, vor lauter Ideenreichtum nicht das zu verkörpern, was sie eigentlich kritisieren. Die Oktopussy-Monologe des Harry und manches Dünengespräch sind keine Lebensweisheiten, sondern esoterische Schwurbeleien.
In die Story verweben die Autoren viele weitere Geschichten, die wenig zur Handlung beitragen: Freundschaft, Familie, Wende, Korruption und Kriminalität, Identitätskrisen. Schon Janosch lässt den kleinen Tiger zur Essensportion sagen: „Alles zusammen und die größte Portion“. Das ist für ein Hörspiel etwas zu viel. Die meisten Figuren sind nachvollziehbar, Bjarne Mädel bleibt in seiner Rolle blass. Die Frauen sind willensstarke Figuren bis hin zur Kriminellen.
Gut gemeint und gut gemacht, aber letztlich Jerry Cotton für Intellektuelle.
Fazit
Trotz kritischer Anmerkungen unterhaltsam und spannend zu hören. Es gibt schlechtere Alltagskost und der Hörer darf nicht jede Woche Kunstwerke erwarten.
Couch-Wertung: 75°
ARD Audiothek
"Keiner weiß"
Ein Psycho-Krimi
Nach mehreren Anläufen hat es das Hörspiel von Susanne Mewe doch noch in die Audiothek (April 24) geschafft. Es fällt jedenfalls aus dem Rahmen. Die Laufzeit beträgt gute 69 Minuten und es gibt nur zwei Rollen und eine Erzählerin. Da muss Autorin und Regie schon was einfallen, um die Hörer bei der Stange zu halten.
Inhalt
Marc fährt den langen Weg von der Arbeit nach Hause. Er hat noch einen Termin bei der Erzieherin seines Sohnes. Diese Erzieherin ist beliebt und bei den Eltern geschätzt, weil sie ihren Job mit viel Herzblut ausfüllt. Aber nun dieses Gutachten. Die Erzieherin beschreibt den Sohn als apathisch und teilnahmslos. Das kann so nicht stehenbleiben. Es stimmt nicht und behindert auch den weiteren Werdegang des Kindes. Marc kommt allein. Seine Frau gibt den Sohn gerade bei ihren Eltern ab. Bei Marc und seiner Frau kriselt es in der Ehe. Nach dem Umzug in das neue Haus weitab von Marcs Arbeitsplatz ist das Zusammenleben schwierig. Nun wollen sie an einem Wochenende in einer winterlichen Berghütte wieder zueinander finden. Marcs Frau kennt das Gutachten nicht und weiß auch nichts von dem Termin. Der beginnt heikel. Die Erzieherin muss noch aufräumen und bittet Marc zu warten. Dann klingelt ihr Handy endlos lang. Marc ist genervt.
Und damit beginnt eine eigene Geschichte. Das Gespräch spitzt sich immer mehr zu. Irgendwann schlägt Marc zu und verletzt die Erzieherin. Sie will ihn anzeigen. Der Dialog von zwei Menschen, die sich körperlich und seelisch verletzen, endet unerwartet und dramatisch.
Das Hörspiel
Eine schlichte Konstellation. Lange Dialoge von zwei Menschen im Besprechungsraum der Kita. Lediglich unterbrochen von einer Erzählerin, die etwas Atmosphäre und Hintergrundwissen einbringt. Über das Kind, die Ehefrau und ihre Eltern. Maria Gedeck spricht dies alles ausgesprochen nüchtern und neutral und ist damit der Gegenpol zu den emotionalen Dialogen. Die vorsichtige, klavierbetonte Unterlegung unterstützt dies.
Der Hörer vernimmt, dass die Ehefrau und ihre Eltern eine eigene, schwierige Vorgeschichte haben. Der Hörer wird überhaupt auf eine komplizierte emotionale Reise geschickt. Die beiden Hauptpersonen klingen anfangs ausgesprochen sympathisch und glaubwürdig. Jede auf ihre Weise. Mit dem Beginn der Verletzungen und Ausbrüche endet jede Sympathie. Der Hörer nimmt an der Entblößung der Hauptpersonen teil. Die Handlung spitzt sich zu, wie die Musik in Ravels Bolero. Es geht um Gewalt gegen Frauen, die für viele Männer noch selbstverständlich ist. Es geht aber auch um Gewalt durch Worte und falsche Bilder, die man von seinem Gegenüber hat.
Den Sprechern gelingt es, ihre Rollen lebensecht auszufüllen. Gelegentlich wird der Hörer sich selber entdecken. Durch die vielen unerwarteten Wendungen ist das Hörspiel in keiner Minute langweilig. Und ja, bei aller Psychologie ist es letztlich ein Krimi, dessen Ende den Hörer sprachlos macht.
Fazit
Dank an den Sender, der den Mut hat, ein solches Hörspiel zu veröffentlichen. Susanne Mewe zeigt, dass es auch in Deutschland Autorinnen gibt, die feine psychologische Kammerspiele schreiben können. Der Hörer muss sich aber auf dieses Format einlassen.
Couch-Wertung: 85°
ARD Audiothek
"Krimi-Hörspiele: Mediatheken / Tipps 42" von Malte Stamer, 08.2024
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Fotos: istock.com / tolgart
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