Krimi-Hörspiele:
Mediatheken / 26
"Radio-Tatort Hamm"
Dirk Schmidt ist nicht zu fassen
Es hat nun etwas länger als ein Jahr gedauert, bis die treue Hörergemeinde wieder einen regulären Hamm-Tatort hören darf: Gute Dinge haben viele Besitzer. Der Tatort-Redaktion Gratulation zur 175. Episode in 15 Jahren und das vom Autor Dirk Schmidt entwickelte Hammer Team ist nun auch schon 13 (!!) Jahre dabei. In der ARD Audiothek sind die Tatort-Krimis neben Bastian Pastewkas Mucks immer Spitzenreiter.
Der Inhalt
Es ist Weihnachten, Rumpfbesetzung in Hamm. Anrufe Scholz bei Lenz und Latotzke. Es muss ohne Verzögerung ein dunkelhäutiger Asylbewerber zum Frankfurter Flughafen befördert werden. Der maulige Latotzke, der bereits angetrunkene Lenz übernehmen notgedrungen den Job. Latotzke sieht eine Chance, Kilometergeld zu scheffeln und fährt mit seinem Oldtimer-BMW.
Der jugendlich wirkende Asylbewerber hat wie alle diese Typen einiges auf dem Kerbholz: Drogen, Randale und reichlich andere kriminelle Aktivitäten. Auf der Fahrt durch die schnelle Autobahn im ansonsten verlassenen Sauerland stellt sich der Abzuschiebende als nicht unsympathisch heraus und spricht auch noch fließend deutsch. Ihm fällt auch noch auf, dass sie von einem anderen Auto verfolgt werden. Es wird ein nächtlicher Überfall im tiefsten Sauerland. Die Täter schnappen sich den Asylbewerber, den BMW und verschwinden. War der Asylbewerber eine große Nummer und sollte befreit werden? Oder ist er Opfer in einem Bandenkrieg? Mit der telefonischen Hilfe von Scholz und einigen Taxifahrern schaffen es die beiden, eine Fahndung einzuleiten.
Das Hörspiel
Das Team ist ja im Laufe der Zeit kleiner geworden. Scholz gibt es nur noch am Telefon. Bleiben die beiden Looser Lenz und Latotzke, die diesmal von dem genialen Jochen Busse als Taxifahrer unterstützt werden. Mit der Abschiebung eines Asylbewerbers deckt diese Episode die Vorgabe der Radio-Tatorte, gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen, ab. Aber wie immer schreibt der Autor Dirk Schmidt gegen alle Erwartungen nachdenkliche, augenzwinkernde Szenen, die zu einem völlig unerwarteten Ende führen. Die Spannung folgt also nicht nur aus Autorennen.
Neben den beiden Hammern gibt es noch die kleine Truppe des Überfallteams. Sie sind schlichte, rabiate Urgesteine der Hammer Kriminellen-Szene. Ihre Mischung aus Dummheit und Brutalität ist schwer einzuschätzen. Aber der Autor liebt Menschen. Alle Figuren werden letztlich warmherzig gestaltet. Wie überhaupt das Hörspiel eine ironisch gefärbte Liebeserklärung an die Menschen des Rheinlands, die Einöde des Sauerlands und die uneingeschränkte Solidarität der Taxifahrer ist. Sie kennen und nennen den kleinsten Ort in der Nähe des Überfalls, um die Täter zu fassen und lieben Oldtimer wie Latotzkes BMW.
Erneut erweist sich Schmidt als Meister der kleinen Nebenszenen. Wie schlitzohrig Scholz Latotzke und Lenz zum Dienst zitiert, hat wohl mancher Hörer schon selbst erlebt. Oder der Dialog über den Mann in der Zentrale: Ist er nun geschieden oder nicht? Ich denke, der war in Kur. Wie Menschen eben reden. Die Vielseitigkeit des Autors ist kaum zu fassen.
Eigentlich wäre ein Sendetermin gegen Jahresende für diese Weihnachtsepisode besser geeignet.
Fazit
Wieder ein wunderbarer Hörgenuss. Hervorragendes Skript, beeindruckende Sprecher, ein wenig Spannung, detaillierte Beobachtungen und viel Menschenliebe. Nicht nur für Anhänger des Hammer-Teams.
Couch-Wertung: 85°
ARD Audiothek oder beim WDR
"Krieg der Erreger"
Die 2. Episode des fränkischen Regionalkrimis
Der Bayerische Rundfunk sendet nun doch noch eine Fortsetzung der Reihe um Melitta und Stern.
Autorin ist wieder Katja Röder, die sich durch eine Reihe von Fernsehfilmen und den Radio Tatorten des SWR mit dem Xaver Finkbeiner als Kommissar ausgezeichnet hat. Trotz einiger Schwächen konnte Röder in der ersten Staffel „Wo du hingehst“ zeigen, dass moderne Regionalkrimis beim Hörer eine echte Chance haben.
Inhalt
Im Bamberger Ankerzentrum bricht eine Masernepidemie aus, obwohl alle Neuankömmlinge sofort geimpft wurden. Ein Neugeborenes verstirbt sogar im Krankenhaus. Die Situation ist chaotisch. Trotz der Kälte versuchen manche Bewohner zu fliehen. Das Zentrum ist überlaufen und die Maserkranken können nicht richtig isoliert werden. Aber wie kann so etwas geschehen?
Hat die Apotheke nicht mehr verwendbaren Impfstoff eingesetzt? Oder hat die Ärztin nicht ordnungsgemäß geimpft? Als die Ärztin in Verdacht gerät, ruft sie Melitta an. Sie war früher ihre Kinderärztin und hat erfahren, dass Melitta nun gelegentlich private Ermittlungen übernimmt. Sie selbst beteuert ihre Unschuld. Melitta macht sich an die Arbeit. Geht zur Polizei, zum Ankerzentrum, zur Apotheke, zum Pharmagroßhandel und wühlt sogar im Müll des Ankerzentrums. Dort stellt sie fest, dass die Impfampullen mehrfach neu etikettiert wurden. Mit Schrecken erfährt sie von der Praxis Pharmazeutika in ganz Europa umherzutransportieren, um als Re-Importe billiger zu werden. Aber Melitta mit ihrem Asperger-Syndrom und der Fähigkeit, Unmengen von Informationen parat zu haben und zu ordnen, findet die Ursache.
Das Hörspiel
Der Titel ist genial. Es geht nicht um Corona, sondern um Masern. Und das Wort Erreger ist sicherlich doppeldeutig, in einer Zeit, in der wir von vielen menschlichen und nicht-menschlichen Erregern bedroht werden.
Die Baronin Melitta Frankenberg ist die zentrale Figur des Hörspiels. Der Hörer erlebt sie mit ihren Geistesleistungen, aber auch ihrem Putzfimmel und der Sorge um die Flüchtlinge. Die Autorin hat die Figur weiterentwickelt. Asperger ist nur noch ein Teil ihrer Lebenswelt, nicht mehr der Dominierende. Sie ist nun eine echte Identifikationsfigur. Der Klostergärtner Anton Stern ist weitgehend außer Gefecht gesetzt. Weil als Kind nicht geimpft, hat er die Masern bekommen.
Die Beiden bewegen sich im zutiefst fränkischen Umfeld. Es ist am Dialektklang zu hören, den Essgewohnheiten und dem, wofür Franken eben bekannt sind. Der Leiter des Ankerzentrums und der Ortspolizist sind kernige Ur-Typen. Ein echter Regionalkrimi also, in dem die Sprecher allesamt einen überzeugenden, lebensechten Eindruck machen.
Aber auch das Ankerzentrum hört sich lebensecht an. Da wird Ukrainisch und Russisch gesprochen, Kindergebrüll im Hintergrund, immer Hektik und Aufregung.
Nach den ersten einleitenden Szenen folgt der Hörer Melitta bei ihren Ermittlungen an den verschiedensten Stationen. So ganz im Vorbeigehen macht das Hörspiel auf eine Reihe von Gegenwartsproblemen aufmerksam: Konflikte im Ankerzentrum auch zwischen Russen und Ukrainern, Impfskeptiker bzw. – Gegner, unvernünftige Lieferketten, Re-Importe bei Pharmaprodukten. Dem Hörer bieten sich also viele Möglichkeiten, wie das Unglück entstanden sein kann. Durch ruhige Klangpausen und immer wieder stimmige Musik und Geräusche ermuntert, fabuliert der Hörer gerne eigene Lösungsgedanken. Er kann da der Lösung schon nahekommen. Die Autorin hat die logischen Schwächen der ersten Episode vermeiden. Der Regie ist zu danken, dass das Hörspiel sich mit 45 Minuten nicht in das starre Stundentempo pressen lässt und dabei genau das richtige Tempo und die nötige Zeit zum Erzählen hat. Das Hörspiel ist kein Erreger, sondern ein Anreger.
Fazit
Ein netter Regionalkrimi, der zeigt, dass man bei aller Urigkeit und Regionalität auch hochbrisante Themen vermitteln kann. Der Hörer wird die Figuren lieben und auf Fortsetzung hoffen. Der Anton kam diesmal etwas zu kurz.
Couch-Wertung: 80°
ARD Audiothek
"Krimi-Hörspiele: Mediatheken / Tipps 26" von Malte Stamer, 06.2023
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Fotos: istock.com / tolgart
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