Krimi-Hörspiele:
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"Blut"
Ein true-crime-Hörspiel mit mehr Wut als Blut
Im November 22 bringt der Bayerische Rundfunk ein Original-Hörspiel von Dana von Suffrin zu Gehör. Der BR setzt damit eine mutige Tradition fort, historische Themen und Stoffe in neuer Form aufzugreifen. Es ist das zweite Hörspiel der literarisch jungen Autorin, die tief in der jüdischen Kultur verwurzelt ist. Es ist wohl eher Zufall, dass der historische Kriminalfall auf den sich dieser Stoff bezieht, bereits 2008 von dem renommierten Literaten Rolf Schneider in einem Hörspiel (Die Affäre Ernst Winter) verarbeitet wurde.
Inhalt
Im Winter 1900 werden in der kleinen westpreußischen Stadt Konitz Reste des grausam zerstückelten jungen Gymnasiasten Ernst Winter aufgefunden. Ein hinzugezogener Laienpathologe befindet, dass eine solch saubere Zerlegung nur von einem gelernten Metzger durchgeführt werden kann. Im Dorf gibt es den erfolgreichen, dennoch ungeliebten Metzger Hofmann und den jüdischen Metzger und Viehhändler Lewy. Beide werden von der örtlichen Polizei verdächtigt, finden aber keine eindeutigen Tathinweise und fordern Hilfe an. Der zugereiste Kommissar erlebt einen Ort voller Wut und Hass gegen Juden, voller Schauermärchen, Lügen und Gespinste. Ein Lumpensammler soll mit dem toten Kopf des Jungen durch den Ort gezogen sein. Hat der Sohn des Metzgers einen Konkurrenten beseitigt? Die bisherigen schlampigen Ermittlungen machen es unmöglich, den tatsächlichen Tatverlauf trotz vieler Zeugenaussagen festzustellen. Im Ort eskaliert die Situation. Viele Menschen gehen gegen die Juden auf die Straße, verteidigen massiv den „deutschen“ rechtsradikalen Metzger. Entnervt zieht sich der Kommissar nach einigen Tagen ohne Ergebnis zurück.
Das Hörspiel
Das Hörspiel ist in gewisser Hinsicht ein historischer True-Crime mit einem grausamen Mord im Mittelpunkt des Geschehens. Es ist kein Spoiler zu erfahren, dass bis heute ungeklärt ist, wer den jungen Mann getötet hat. Die Spannung wird nicht durch die Suche nach dem Täter erzeugt, sondern durch die zunehmende Eskalation der Situation. Das Hörspiel schildert eher grob die Ermittlungen, aber das Verhalten der Menschen und Behörden, das später zum größten Polizeieinsatz im Kaiserreich führen wird, um Juden zu schützen. Die Autorin hat die reale Geschichte ausführlich studiert und sie literarisch verarbeitet.
Erzählt wird das Drama von einem neutralen Erzähler. Getragen von der Vielzahl dialogischer Charakterstudien: die jüdische Familie Lewy, die deutschnationale Familie Hofmann, die Dienstmädchen, die vielen Verhöre des Kommissars mit wirren Menschen. In diesen Verhören kommen Menschen wie die Dienstmädchen, die nicht lesen und schreiben können, zu Wort. Eingeblendete Radionachrichten (die es zu der Zeit in Konitz noch nicht geben konnte) und vorgelesene Zeitungsausschnitte, mit Dienstmädchenzitaten aus Reportergesprächen, vermitteln den Eindruck von Authentizität. Demgegenüber stehen die vielen Kleinstadtbewohner mit ihren Eigenheiten und Marotten, die ein hörenswertes Typen-Panoptikum bilden, aber zunehmend Angst und Schrecken verbreiten, der sich in Hass gegenüber dem „Judenmörder“ steigert. Da gibt es Gerüchte, die zu Lügen werden, Verbreitung von Schauermärchen und gezielte Tätlichkeiten gegen die Juden.
Mal bremst die Musik das Tempo, mal beschleunigt sie, mal ist sie melodiös, mal wenig harmonisch, elektronisch. Lediglich der zugereiste Kommissar bewahrt die Ruhe und ermittelt sachkundig. Am Ende muss er dem Mob nachgeben und reist ab.
Alle Rollen sind bestens und glaubwürdig besetzt, niemand drängt in den Vordergrund. Deutlich sind die verschiedenen Schichten zu unterscheiden, vorsichtig werden Dialekte eingesetzt.
Das Hörspiel ist furchterregend, weil der Hörer spürt, genau so können sich heute jederzeit solche Szenen wiederholen. Distanz, Ablehnung zuletzt Hass und Gewalt. Akten verschwinden, Verschwörungstheorien, Schauermärchen. Niemand verteidigt die Schwachen und der Staat muss oft genug seine Hilflosigkeit gestehen. Auch die so scheinbar neutralen Medien tragen ihren Teil zur Eskalation bei, indem sie den Lügnern öffentlichen Raum geben. Es ist die Kunst dieser Inszenierung, dass der historische Stoff unmittelbar unter unsere Haut dringt. Der Ton ist nie anklagend, eher sachlich, gelegentlich witzig, wenig Dialekt.
Die Affäre Ernst Winter von Rolf Schneider
Das ältere Hörspiel ist ruhiger und schlichter. Die Geschichte wird aus der Perspektive des örtlichen Kommissars (z.T. in Ich-Form) erzählt. Der mitfühlende Text des Literaten wird von dem bereits verstorbenen Vadim Glowna einprägsam gesprochen. Auch dort gibt es viele hörenswerte Dialoge und die Rolle der Medien und der Politik wird thematisiert. Einen besonderen Reiz macht es aus, dass die Regie deutlich pommersche und jiddische Töne erklingen lässt. Das Hörspiel ist über Youtube verfügbar.
Fazit
Ein klammheimlich politisch-historischer Kriminalfall, der den Hörer bestens unterhält, gelegentlich unter die Haut geht und die meisten Hörer wohl noch ein paar Tage beschäftigen wird.
Couch-Wertung: 90°
ARD Audiothek
"November"
Ein Non-Maigret Hörspiel nach George Simenon
Der bereits 1989 verstorbene George Simenon ist ein kriminalistischer Fels in der Brandung. Anders als bei vielen Klassikern der Kriminalliteratur werden seine Bücher bis heute neu veröffentlicht und z.T. neu übersetzt. Seit 1953 wurden fast 80 Hörspiele mehrheitlich mit der beliebten Figur des Kommissar Maigret von allen großen Rundfunkanstalten produziert. Nur ein kleiner Teil umfasst die sog. Non-Maigret-Stoffe, um die sich aktuell besonders der NDR kümmert, der seit 2019 sechs neue Simenon-Stoffe zu Gehör brachte. Das aktuelle Hörspiel vom Nov. 22 basiert auf einer 2021 veröffentlichten, neuen Übersetzung. Das französische Original wurde 1969 geschrieben.
Inhalt
Ein einsam am Waldrand gelegenes Landhaus, eine Autostunde von Paris entfernt. Abendessen. Sturm und Regen enden abrupt. Vater, Mutter, Bruder und Schwester schweigen und essen. Lore, die Tochter sagt zu sich selbst: „Warum muss ich zu dieser Familie gehören?“.
Der Vater ist angeblich Hauptmann, tatsächlich aber nur Buchhalter. Nach dem Essen zieht er sich in sein Arbeitszimmer zurück. Die Mutter ist Alkoholikerin und liegt tagelang in ihrem Bett. Lore ist Laborantin und arbeitet in Paris, der Bruder Olivier ist Student. Wirtschaftlich geht es der Familie gut, sie können sich eine Haushälterin leisten: Mariella, eine Italienerin, die Lebensfreude und gute Laune ins Haus bringt. Olivier verliebt sich in sie und sie lässt ihn gewähren. Aber auch der verschlossene Vater beginnt eine Affäre mit Mariella. Lore spürt die nahenden Probleme. Sie hat selbst eine Affäre mit ihrem Chef im Krankenhaus. Die Mutter ahnt von all dem Nichts.
Eines Tages ist Mariella verschwunden. Die Mutter sagt, sie sei zurück in ihre Heimat gezogen. Lore hat Zweifel und fragt Mariellas beste Freundin: Nein, nie im Leben geht Mariella zurück.
Lore will genau wissen, was passiert ist. Hat der Vater seiner Geliebten eine Wohnung in der Stadt gemietet? Hat der Bruder ihr etwas angetan oder die Mutter? Beide waren eifersüchtig. Oder ist sie zu einem ihrer zahlreichen Geliebten gegangen?
Die Wahrheit ist grausam und die Familie schweigt und leidet.
Das Hörspiel
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Lore, die als Erzählerin ihre Sicht der Geschehnisse darstellt. Ergänzt durch eine Vielzahl von Dialogen hauptsächlich mit ihrem Bruder. Die meisten Szenen spielen sich im Landhaus ab, alles innerhalb von wenigen Tagen in einer unbestimmten Zeit. Der Hörer lernt die schwierigen Familienmitglieder intensiv kennen und traut gegen Ende jedem etwas Unerhörtes zu. Simenon erzählt in seiner bekannten, nie wertenden Position von Menschen, die in einer Familie alle ihr eigenes, seltsames Leben leben. Keiner stört sich an der alkoholkranken Mutter, es hilft ihr aber auch keiner. Lore ist Bettbegleiterin ihres Chefs, den sie siezt und der sie benutzt. In so einer Familie kann eine lebenslustige Frau wie Mariella nicht auf Dauer existieren.
Das Hörspiel ist ruhig, kammerspielartig erzählt. Den Sprechern gelingt es, diese düster melancholische Stimmung auszudrücken, dass man glaubt, am Essenstisch zu sitzen. Musik und Geräusche sind vorsichtig und melodiös eingesetzt.
Das Hörspiel ist kein klassischer Krimi, auch wenn es eine Verschwundene gibt und dies geklärt werden soll. Es sind die familiären Spannungen, die Hörer bei der Stange halten. Und kurz vor Ende wechselt der Ton, es wird schneller erzählt, fast hektisch und drastischer. Wie geht die Familie mit diesem Grauen im November um?
Fazit
Kein Hörspiel für Maigret-Nostalgiker oder Plot-Fanatiker, aber die gelungene Inszenierung eines Familiendramas mit der typischen, lakonischen Haltung und der nüchternen Sprache von Simenon. Passt gut zu den letzten NDR-Bearbeitungen seit 2019.
Couch-Wertung: 80°
ARD Audiothek
"Krimi-Hörspiele: Mediatheken / Tipps 21" von Malte Stamer, 01.2023
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Fotos: istock.com / tolgart
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